Später in Wien habe ich doch so einen Tretroller mit Luftreifen bekommen. Mein Aktionsradius hat sich dadurch ungemein erweitert. So habe ich das Rosental für uns (meinen Roller und mich) entdeckt. Immer hübsch bergauf die Steinbruchstraße, Schrebergärten zu beiden Seiten, auf der Fußgängerbrücke über die Flötzersteigstraße hinweg hinüber zur Kleingartensiedlung Waidäcker, die Waidäckerstraße entlang zum Ottakringer Bad und die Johann-Staud-Straße hinauf bis zum Feuerwehrgebäude. Geradeaus ginge es weiter bergauf durch den Wald zur Jubiläumswarte, nach rechts zum Wilhelminenschloss. (Von 1934 bis 1938 Sitz der Wiener Sängerknaben. – Zum Wilhelminenschloss brachte Tino mich 1951. Man hat von hier einen wunderbaren Blick über Wien. An jenem Tag aber standen weit hinten am Horizont schwarze Wolken über glimmendem Feuerrot: die Ölfelder von Zistersdorf brannten.) Nach links aber schließt an das Feuerwehrhaus eine dunkelrote Ziegelmauer an, die das Gelände der Steinhofgründe umschließt. Entlang dieser nicht enden wollenden Mauer zieht sich der Heschweg durchs Rosental hin, auf der anderen Seite erstrecken sich weithin Schrebergärten und kleine Gartenhäuser. Die Straße ist schmal und kurvig und nur dem Anrainerverkehr offen. Von dieser Seite her geht sie zumeist bergab, zum Teil ziemlich steil. Ideal, um auf dem Roller bei spärlichem Verkehr lange Strecken abzufahren. Ohne Treten und mit teils atemberaubendem Tempo. Weiter unten heißt der Weg Sanatoriumstraße. Jenseits der immer noch vorhandenen Mauer liegt das Psychiatrische Krankenhaus Am Steinhof. An der Baumgartner Höhe endet die Mauer. Die Straße hat sich zu einem breiten Vorstadtboulevard gewandelt. Hier liegt der Haupteingang zur Lungenheilanstalt. Mein Opa hatte hier Pförtnerdienst gemacht, bevor er Friseur geworden war. Man kann ermessen, wie hoch der erste Teil der Runde hinaufgeführt hat, denn es geht noch immer ständig bergab, auch den Flötzersteig hinunter. Vom Ameisbach weg geht es eine letzte kurze Strecke wieder bergauf bis zum Gasthaus Windradl. Da bin ich fast schon wieder zuhause. Das letzte Stück die Steinbruchstraße wieder hinunter sause ich zum Fleminghof. Etwa sieben Kilometer, die erste Hälfte physisch fordernd, die zweite fast zur Gänze eine berauschende Abfahrt.
Dieselbe Strecke bin ich auch gelaufen, gegen die Uhr. An die Zeiten erinnere ich mich nicht mehr. Es war ein ziemlich wirksames Ausdauertraining. Ich weiß noch, dass ich nach dem Laufen literweise Milch getrunken habe.
Wieder einmal mit dem Roller habe ich einen Freund mitgenommen. Während der Abfahrt durchs Rosental stand ich auf dem Trittblech, der Freund saß hinter mir auf dem Gepäckträger und hielt sich an mir fest. Wir hatten einen Höllenzahn drauf, da kam uns in einer Kurve ein Rettungswagen entgegen. Er nahm die Breite der Straße fast ganz für sich ein. Mir war in diesem kurzen Augenblick klar, dass unsere beiden jungen Leben an einem Faden hingen, da war der Spuk auch schon wieder vorbei. Ich hatte den Roller kaltblütig auf dem Schotterbankett an dem Rettungsfahrzeug vorbeigesteuert, ohne zu bremsen, was einen sicheren bösen Sturz bedeutet hätte. Wenigstens einmal also kein Schmiss. Hätte es einen gegeben, es hätte der letzte sein können. So aber blieb mir noch reichlich Gelegenheit…
In Ottakring hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass die alte Häuserzeile zwischen dem Viadukt der Vorortelinie und der Zehnermarie abgerissen werden sollte. An ihrer Stelle sollten moderne Wohnhäuser gebaut werden. Die Pläne waren konkret. Mama verbrachte mehr Zeit im Rathaus als im Frieseurladen. Der Laden gehörte uns nicht. War gepachtet. Ein Ersatz für das verkommene Loch ginge allenfalls an den Eigentümer, Herrn Pilat. Und der schäbige Inhalt? Faktisch wertlos. Die Gemeinde Wien bot trotzdem eine Ablöse. Einen Pappenstiel. Die Existenzgrundlage der ganzen Familie? Sucht euch doch eine Anstellung bei einem anderen Friseur! Und wenn alle Stricke reißen, Österreich ist ein Sozialstaat. Aber auch seinen Bürgern verantwortlich. Da kann man keine Geschenke nach Gutdünken verteilen.
Tino hatte hin und wieder die Gebarung kritisiert, unter der der kleine Laden geführt wurde. Ohne finanzielle Planung, ohne Übersicht, von der Hand in den Mund. Wäre er zuständig gewesen, es hätte einen Geschäftsplan und ein Budget gegeben. Dann wären absehbare Steuerforderungen kein überraschender Angriff auf den Lebensunterhalt der nächsten Monate gewesen. Mama hätte also nicht zum Finanzamt rennen und um Erleichterungen betteln müssen. Alles wäre ethisch korrekt zum vorgeschriebenen Zeitpunkt abgeführt worden. Andererseits, in der gegebenen Situation hätte er es auch für ethisch korrekt gehalten, die Argumente der Magistratsbeamten zu akzeptieren und ihre Vorschläge zu befolgen. Öfter erzählte er mir, dass noch sein Vater ganz freiwillig mehr Steuern bezahlt hatte als notwendig. In jener Generation hatte man das als ehrenvoll, also ehrlich, betrachtet. Mama schaffte es, ohne Beziehungen und ohne Streit, folgendes herauszuverhandeln: Eine Mietwohnung in einem Gemeindeneubau und die Miete eines großen Geschäftslokals, beide im Fleminghof. Dazu einen bescheidenen Zuschuss zu den für unsere Verhältnisse enormen Kosten der Ausstattung des neuen Ladens.
Bald nachdem der Deal mit dem Magistrat perfekt war, meldeten sich das Finanzamt und die Krankenkasse mit Forderungen, seltsamer Weise in gleicher Höhe wie der Zuschuss. Also musste das Geld für die Einrichtung des neuen Geschäfts anderswoher kommen. Der Kleingarten am Ameisbach musste dran glauben. Oma hatte ihn vor einiger Zeit gekauft. Ich habe heute keine Ahnung, wovon. Jetzt musste der Verkaufserlös in Mamas neues Geschäft investiert werden. Den Schrebergarten hatten meine Eltern und ich als Sommerdomizil verwendet.
Die Lorenz-Mandl-Gasse besteht mit diesem Namen schon seit achtzig Jahren und ist eine der Nord-Süd-Adern durch die Gründerzeitwohnblocks. Schon in den 1920er-Jahren hat man an ihr südliches Ende einen großen Wohnblock gebaut und jetzt, Ende der 50er um noch ein kleines Stück verlängert. Dorthin hat man die große neue Wohnanlage hingebaut, den Fleminghof. Man kam sich vor wie in Amerika, wenn abends in dem neuen Friseurgeschäft das damals neue und völlig ungewohnte Neonlicht anging und den Laden und die Straße davor taghell erleuchtete. Durch die riesigen Glasfenster konnte man sehen, wie riesige bunte Trockenhauben an gelenkigen Armen an den Wänden hingen. Heute würde ich ja noch eine von den alten Blechhauben auf dem wackeligen Stativ aus dem alten Laden in die moderne Einrichtung integrieren, als Museumsstück, damals aber konnte man den Ramsch aus der Jahrhundertwende einfach nicht mehr sehen.
An der anderen Seite des Fleminghofs, Ecke Maroltingergasse und Steinbruchstraße, dort Josef-Weinheber-Platz benannt, lag im zweiten Stock unsere neue Wohnung. So eng sie war, gegenüber den bisherigen Gewohnheiten hat sie den bisherigen Wohnstandard gewaltig erweitert. Vorraum, lange und schmale Küche, kleines Bad mit Duschecke, ein kleines Zimmer (16m²) diente meinen Eltern als Wohn- und Schlafraum und dazu meinem Vater als Arbeitsraum. Solange es noch keinen Fernsehapparat gab, stand hier auch noch das Klavier. Dieses Zimmer musste man durchqueren, um zu dem kleinen Kabinett (12 m²) zu gelangen, wo mein Bett und der Lerntisch stand nebst dem Klavier und Tinos Büchern in einem einfach zusammengebastelten Bretterregal. Über meinem Bett hingen zwei kleine schwarze Büsten von afrikanischen Wilden, wie sie damals en vogue waren. Ich hatte sie mir gewünscht wegen der nackten Brüste der Negerin. Meine Oma bewohnte einen größeren Schlaf- und Wohnraum (25m²) mit Balkon.