worin vorkommen: Nürnberg, Fürth und eingrober Brief sowie eine Familienzusammenführung mithilfe eines fliegenden Blechhaufens
Tino hat einen Bruder. Rudi lebt in Westberlin. Weitere Geschwister leben in Ostdeutschland nahe Berlin. Rudi ist verheiratet mit Ilse. Sie haben eine aparte Tochter, Bärbel. Sie ist wenige Jahre älter als ich. Klar, dass es Tino drängt, wenigstens Rudi und seine Familie zu sehen. In den ersten Jahren nach dem Krieg haben Tino und Rudi einander hin und wieder Briefe geschrieben. Tino anscheinend öfter, denn ich habe aufgeschnappt, wie Tino sich darüber beklagte, keine Antworten zu erhalten. Ich kann jetzt halbwegs schreiben und beschließe, meine Fähigkeiten einzusetzen, um Tinos Problem zu lösen. Ich schreibe einen Brief an Bärbel. Er beginnt mit der Anrede "Blöde Bärbel!"
In jenen ersten Nachkriegsjahren war an ein Wiedersehen nicht zu denken. Weder in Wien noch in Berlin war das nötige Reisegeld vorhanden. Der Kalte Krieg kam in die Gänge. Westberlin wurde isoliert, die 'Luftbrücke' eingerichtet. 1952 wurde die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik sowie Westberlin geschlossen. Das Jahr darauf walzten sowjetische Panzer einen Arbeiteraufstand in Ostberlin nieder. Wieder ein Jahr später bin ich neun. Unter Aufwendung der letzten Reserven erscheint meinen Eltern nun eine Reise nach Berlin machbar. Durch Ostdeutschland ist es ihnen wohl zu gefährlich, sofern es überhaupt möglich wäre. Sie entscheiden sich für die teuerste Variante, das Flugzeug.
Wir reisen mit der Bahn nach Nürnberg. Vor dem Bahnhof warten wir im Regen auf einen Bus, der uns zum Flugplatz in Fürth bringt. Wir sind auf die Air France nach Berlin gebucht. Eine DC4 steht bereit. Ich schaue auf den Haufen Blech und kann mir nicht vorstellen, dass der sich in die Luft erheben soll. Drinnen fühlt man sich zunächst recht wohl. Nicht die Plastikatmosphäre von heute. Viel mehr Stoff und weiche Sitze. Auch mehr Platz, kommt mir vor. Oder nur, weil ich noch recht klein bin? Es dürften etwa vierzig Personen an Bord sein. Ich darf am Fenster sitzen. Neben mir Tino. Mama jenseits des Mittelgangs. Die vier Propellermotoren brüllen auf, einer nach dem anderen. Der Blechhaufen humpelt über löchrige Pisten, steht dann ein paar Augenblicke still mit den Motoren auf Vollgas. Alles um uns herum vibriert. Dann setzt sich der Blechhaufen gemächlich in Bewegung, gewinnt allmählich an Fahrt, das Rollen scheint kein Ende zu nehmen. Endlich hebt der Blechhaufen seine Nase. Das Rumpeln hört auf. Das Vibrieren nicht. Mama sagt, "Jessas, Maria." Darauf Tino, leicht ungeduldig, "Was ist denn?" Langsam geht es höher, gerade ausreichend, um nicht an den Bäumen zu kratzen, die das Flugfeld begrenzen. Die Alleen werden schmäler, der Zug mit Dampflokomotive kleiner. Der Rauch zieht von der Lok weg in die falsche Richtung. Der Zug dürfte rückwärtsfahren. In diesem Augenblick werden wir vom Grau der Wolken verschluckt. Der Blechhaufen wird in kurzen Abständen tüchtig durchgeschüttelt. "Jessas, Maria", sagt Mama. Und Tino, "Was ist denn?"
"Was ist denn, was ist denn?" Mama äfft Tino nach. "Ja, spürst es denn net? Mia stürzen o!"
Tino scheint diese Meinung nicht zu teilen, aber sicher ist er sich auch nicht. Er schaut angespannt, sagt aber nichts. Wieder rüttelt etwas heftig an unserem Blechhaufen, als wolle es ihn in Stücke reißen. Im selben Moment erhellt grelles Licht alles um uns. Die Wolken sind jetzt unter uns. Das Brüllen der Motoren lässt etwas nach, gleichzeitig auch das Vibrieren. Mit der Sonne scheint etwas Ruhe bei uns eingekehrt. Das hätte ich nicht denken sollen, denn im selben Moment sackt der Blechhaufen nach unten durch. Mein Magen muss sich jetzt oberhalb der Lunge befinden. Ich weiß nicht, wo Mama die Luft hernimmt um zu sagen "Jessas, Maria!" Die Sonne ist weg. Die Wolken haben uns wieder. Tino schweigt. So brüsk das Absacken begonnen hat, so abrupt endet es mit einem harten Schlag von unten auf den Blechhaufen, als hätten wir hart auf den Boden aufgesetzt. Mama: "Jessas, Maria! – Tiiinooo! – So tua doch was!"
Immerhin, was immer unsere Blechbüchse zerreißen will, es gelingt ihm nicht. Wankend zieht sie durch die Wolken, die schon wieder dünner werden. Neuerlich erstrahlt die Kabine im gleißenden Sonnenlicht. Die Stewardess vorne erhebt sich. Indem sie sich krampfhaft an einem Sitz festhält, entschuldigt sie sich für den etwas unruhigen Flug. Der Kapitän, M. Jaques Kamikaze, werde das Mögliche tun, um den Flug ruhig zu gestalten. Aufgrund des unstabilen Wetters würden uns Turbulenzen den ganzen Flug hindurch begleiten. Wir mögen angeschnallt auf unseren Plätzen…
Sie kann diesen Satz nicht beenden. Ein anderer Satz führt sie an die Kabinendecke. Dort bleibt sie erstaunlich lang, bevor sie ganz rasch wieder herunterkommt und auf den Flur knallt. Mama: "Jessas, Maria!" Ich glaube, die Stewardess hat das nur getan, um zu demonstrieren, was passieren würde, wenn wir nicht angeschnallt blieben. Unsere Flughöhe, sagt sie, nachdem sie sich aufgerappelt hat, würde viertausend Meter betragen. In etwas mehr als einer Stunde würden wir in Berlin Tempelhof landen.
Die Stewardess und ihre Kollegin wären wohl lieber auch auf ihren Plätzen geblieben, aber sie haben ihre Pflicht zu erfüllen und bewegen sich eigenartig hüpfend durch den Flur, um Drinks anzubieten. Mama ist nicht konversationsfähig. Sie hat ihr Gesicht in die Papiertüte gesteckt und kotzt. Fürsorglich bringt die Stewardess einen ganzen Packen weiterer Speibsackerl. Tino verzichtet auf alles, während Ich einen Kakao bestelle. Den hätte ich gleich direkt in meine Kotztüte schütten können, denn dort landet er ohnehin, gleich nachdem ich ihn getrunken habe.
Das Wetter bessert sich. Wir haben wieder Bodensicht. Das Bild der bunten geometrischen Figuren unter uns gefällt mir. Der Himmel ist jetzt heiter. Trotzdem hören die Turbulenzen nicht auf. Ebenso wenig das Erbrechen bei Mama. Dafür hat sie aufgehört, Jessas Maria zu sagen. Das geht so, bis wir in Tempelhof landen. Es geht ihr wirklich schlecht. Wir befürchteten, sie kann den Blechhaufen gar nicht auf eigenen Beinen verlassen.
Rudi, Ilse und Bärbel bewohnen in Tempelhof eine Sozialwohnung. Von den Fenstern in einem oberen Stockwerk blickt man hinunter auf einen weiten begrünten Innenhof. Kinder fahren umher mit Fahrrädern und Tretrollern, spielen in Sandkisten. Mama schaut erst einmal gar nicht irgendwo hinunter. Sie verbringt die nächsten drei Tage im Bett. Sie glaubt noch immer, wir stürzen ab.
Bärbel nimmt mich mit in den Hof zum Spielen. 'Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft', den Marsch kenne ich schon aus Tinos Radio. Mir kommt vor, es ist wirklich so. Die Luft ist anders als in Wien. Weicher, sanfter, duftiger, würziger. Die Tretroller haben es mir angetan. Das sind ganz andere Dinger als mein Holztriton. Sind aus Metallrohren, schön lackiert. Räder mit Fahrradspeichen! Wie leicht sie rollen auf ihren dicken beigen Luftreifen! So etwas möchte ich daheim auch haben! Wir verlassen den Hof, Bärbel mit ihrem Fahrrad, für mich hat sie einen Tretroller ausgeborgt. In der Wohngegend sind große Flächen unverbaut. Dort erheben sich Hügel mit Parks darauf. Auf den kurvigen Wegen durch diese Grünflächen lässt es sich trefflich vom Hügel hinab sausen. Bärbel sagt, unter den Hügeln liegt der Schutt von zerbombten Wohnblocks.
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