Der schönste Garten ist der, der vor dem Verwildern steht.
Denkt so ein Gartenfreund? So gedacht hat jedenfalls mein Onkel. Der ist in der ersten Hälfte des Neunzehnten Jahrhunderts Orthopäde in Leipzig gewesen. Er hat erkannt, dass viele Missbildungen, Fehlfunktionen und Leiden durch mehr Aufmerksamkeit und Gegenmaßnahmen am Heranwachsenden vermeidbar wären. Dazu hat er verschiedene Hilfsmittel erfunden. Eine spezielle Verlängerung der Sessellehne etwa, um eine aufrechte Sitzposition zu fördern. Oder ein orthopädisches Kinnband, wenn eine Fehlstellung des Kiefers droht. Ja, sogar an Vorrichtungen zur Verhinderung der Masturbation hat er gebastelt. Seine Zeit, die beginnende Industrialisierung, hat vielen Kindern wenige Möglichkeiten zum Austoben eingeräumt, also hat er der Stadtjugend empfohlen, sich in Stadtgärten körperlich zu betätigen. Später hat man Unterstände und kleine Hütten auf diese Sportstätten gestellt und die sogenannten Schrebergärten waren geboren. Wohl weil er Moritz Schreber hieß. Und deshalb ist er mein Onkel.
Sein Bruder im Geiste, Franz Siller, somit mein Vater, hat die Kleingartenidee in Wien entscheidend gefördert. Deshalb gibt es mich da in einer der ältesten Schrebergartenkolonien Wiens, am Ameisbach.
Gärten, die vor dem Verwildern stehen, sind der Horror für jeden Kleingartenvereinsobmann. Schattig und verwachsen darf so ein Garten schon sein, aber ja nicht ungepflegt! Ein Gartenhalter, der nicht genug arbeitet auf seiner Parzelle, der wird geächtet von der ganzen Gruppe. Dafür sorgt die Vereinsleitung ganz verlässlich. Der Rasen kurz, ja kein Unkraut, die Obstbäume korrekt geschnitten, ja kein Herbstlaub, der Zaun sauber gestrichen, alles Voraussetzungen für eine gesunde soziale Einbettung in den Verein.
Mein Herr hält sich mehr an den Grundsatz Moritz Schrebers. Ich bin schattig, zugewachsen mit Sträuchern und Obstbäumen und ziemlich verwahrlost. Das Unkraut sprießt munter neben den abgetretenen Ziegelsteinen, die mich als Wege durchqueren, und überhaupt überall, wo es will, will sagen überall. Das von den Bäumen gefallene Obst bleibt lange liegen, bevor jemand es aufsammelt. Die Wespen haben ihre wahre Freude. Der Vereinsobmann hat schon mehrmals interveniert. Er kann aber nicht viel machen, denn mein Herr ist nicht Pächter, sondern Eigentümer. Also, eigentlich ist es seine Schwiegermutter, aber die habe ich hier selten gesehen.
In meiner Mitte steht ein zweckentfremdetes Ölfass als Wassertonne. Dort entspringt ein dünnes Zinkrohr dem Boden mit einem Wasserhahn an seinem oberen Ende. Eine verzinkte Gießkanne steht daneben und auf ihr liegen die zwei Stücke eines auseinandergebrochenen Seifestücks, Die Seife ist grau und rau. Sie kratzt auf der Haut, auch wenn sie nass ist. Mein Herr hat in der einfachen Holzhütte zwei große Schachteln mit solchen Seifestücken gefunden. Die Schachteln waren seit Kriegszeiten in der Hütte gelegen. Mein Herr nennt es Judenseife.
Ich liege am linken Ufer des Ameisbachs, der vom Ostrand der Steinhofgründe in südlicher Richtung nach Penzing zum Wienfluss läuft, heute allerdings unterirdisch. Das Ufer ist abfallend, oben am Scheitel endet die stadtauswärts verlaufende Breitenseerstraße. Dort steht eine Radiofabrik. Jugendstil. Und von dort laufen etliche Fußwege den Abhang hinunter zwischen den Gärten durch zur Ameisbachzeile. Zwei solche Durchgänge bilden meine Nord- und Südgrenze. Der nördliche Weg ist öffentlich. Passanten sind aber sporadisch. Den südlichen öffnet ein sperrbares Tor nur den Anliegern. An diesem Durchgang etwa auf halbem Weg zum Ameisbach befindet sich mein Eingang und gleich dahinter die zusammengestoppelte Holzhütte. An beiden Wegen wachsen auf meiner Seite Sträucher, rote und schwarze Ribiseln, auch Stachelbeeren. Neben mir den Hang hinauf und hinunter liegen meine Nachbarparzellen. Die meisten leidlich gepflegt, kurzer Rasen, kein Unkraut, geschnittene Obstbäume, kein Herbstlaub, säuberlich gestrichene Zäune, ansehnliche Gartenhäuschen. Unter meinen Nachbarn bin ich das schwarze Schaf.
Meinem Herrn mache ich deshalb keinen Vorwurf. Er ist zwar viel hier, hätte also reichlich Zeit, mich in Schuss zu halten. Doch er hat sehr viel Wichtigeres zu tun. Je nach Wetter sitzt er draußen vor der Hütte an einem wackeligen weißen Küchentisch oder in der Hütte nahe am Fenster und kritzelt mit Federstiel und Tinte Zeichen auf Papierbögen. Nein, Sie können mir glauben, ich weiß, was Schreiben ist. Der aber schreibt nicht, er kritzelt. Kritzelt runde Knödel zwischen fünf waagrechte, parallele Linien, Knödel mit Hälsen, Hälse mit und ohne Fähnchen oder verbunden durch Balken und Bögen. Weiß Gott, wozu das gut sein soll. Muss aber wichtig sein. Er macht nichts anderes die ganze Zeit. Doch, Milch trinkt er – die Gastritis - und er lässt nebenbei den Eintopf köcheln. Hauptsächlich Erdäpfel (er nennt sie Kartoffeln) und Zwiebeln, Karotten (nennt er Möhren), Paradeiser (er sagt Tomaten), je nach Ernte aus meinem Boden. Wenn es hoch hergeht, die Stücke einer Knackwurst (Beamtenforelle). Der Eintopf köchelt auf einem kleinen Holzherd. Mein Herr verheizt darin Abfall jeglicher Herkunft, alles was nicht mehr gebraucht wird und voraussichtlich brennt, bekommt der Gourmand zu fressen. Manchmal schmeckt ihm das Essen gar nicht, dann kommt schwarzer Rauch, mein Herr sagt Qualm, aus dem löchrigen Ofenrohr über dem Dach. Der Qualm kommt auch aus jeder Ritze des Herdes und füllt die Hütte von der Decke bis zu den Knien. Mein Herr öffnet dann die Fenster und flüchtet ins Freie. Jetzt ist Zeit für ein paar Minuten Gartenarbeit. Also, nicht ich arbeite. Ich lasse arbeiten. Die Pflanzen arbeiten ohne Unterlass ganz von selbst. Und wenn es drinnen raucht, arbeitet sogar mein Herr. Er macht eine Runde mit der Gießkanne, bückt sich nach einem Löwenzahn, der besonders frech im Weg steht, reißt ihn aus, wirft ihn im Bogen in Richtung Misthaufen, verfehlt ihn aber deutlich. Die anderen Löwenzähne haben vorläufig nichts zu befürchten. Ist sowieso hoffnungslos. Er begibt sich zum Plumpsklo, das in einer meiner Ecken steht, setzt sich hin und liest von den Zeitungsstücken, die dort als Klopapier hängen, findet aber wenig Zusammenhang. Wenn sich der Rauch aus der Hütte verzogen hat, setzt mein Herr sich wieder an den Tisch, sorgt für ein gewisses Minimum an Rauch, der nun von seinem Zigarillo kommt, und kritzelt weiter. Wenn es dunkel wird, zündet er den Docht der Petroleumlampe an und weiter geht’s mit dem Kritzeln. Strom gibt es hier nicht. Also auch kein Radio. Die tragbaren Geräte lassen auf sich noch warten. Das Fehlen des Radios ist das einzige Indiz, dass das hier nicht das Paradies ist.
All das kann, sollten Zweifel über meine Zuverlässigkeit aufkommen, Bambi bestätigen. Das ist die rothaarige Irish Setter-Hündin, die wie ein Haftelmacher auf meinen Herrn aufpasst. Wehe, jemand geht auf dem öffentlichen Fußweg an mir entlang. Bambi rennt wie verrückt bellend den Zaun entlang, Schaum vorm Maul, rauf und runter und zurück, solange bis der Passant in die Flucht geschlagen ist. Für Bambi bin ich das ungetrübte Paradies. Sie vermisst das Radio nicht. Wie es mir dabei geht, interessiert ja keinen. An Gartenarbeit beteiligt sie sich nie. Und das Klo verwendet sie auch nicht. Macht einfach da auf mich hin, wo es ihr gerade passt.
Am späteren Nachmittag kommt der zwölfjährige Sohn meines Herrn hierher. Er schiebt sein Fahrrad. Auf dem Vereinsweg ist das Fahren verboten. Seine Hausaufgaben hat er zuvor im Fleminghof gemacht, behauptet er. Muss auch so sein. Schreibflächen sind hier Mangelware. Rainer klettert auf den Kirschbaum. Der trägt wirklich fantastische Früchte. Dunkelrot, riesig, knackig, fleischig und so süß! Am besten schmecken sie direkt oben auf dem Baum. Rainer bringt aber auch eine Menge herunter. Zum Teil wird er sie über den Zaun hinweg an Passanten verkaufen. So wie später im Jahr auch die Äpfel und Zwetschken (Pflaumen, sagt mein Herr), Ringlotten, Birnen (so schöne, feste, grüne), Ribisel (Johannisbeeren, Sie wissen schon), Agraseln (Stachelbeeren), Brombeeren. Brombeeren sind die unsympathischsten. Die kratzen mit ihren Dornen bei jeder Berührung, ärger noch als die Judenseife. Und Rainer ist ziemlich wehleidig. Mein Herr, Rainer nennt ihn Tino, schickt den Buben zum Einkaufen. Am Rand der Kolonie steht das Schutzhaus 'Am Ameisbach'. Es ist ein weitläufiges Gasthaus mit Mehrzwecksaal für Gesellschaften und Veranstaltungen aller Art. Regelmäßig trainieren hier Radballer ihre artistischen Fertigkeiten. Vor dem Lokal dehnt sich dunkel ein riesiger Kastaniengarten hin bis zu dem Geländer, das die Gäste vor dem Abgrund dahinter schützt. Ein Geländebruch hinunter nach Penzing. Der Ausblick ist beeindruckend. Neben dem Schutzhaus steht eine Ansammlung von Holzschuppen. Der vorderste beherbergt eine kleine Greißlerei, Tino sagt Kaufladen. Außer Milch, Semmeln (Brötchen) und Dürre Wurst bekommt man auch Nägel, Dachpappe, Zement und Karbolineum, das ganze Sortiment, das man heute im Bauhaus findet. Es lagert in den anderen Schuppen und dient vor allem zur Versorgung meiner Schwestern und Brüder. Rainer soll Milch bringen und ein halbes Brot, einen Würfel Margarine, einen Becher Marmelade und zwei Kilo Kartoffel. Aber ja nichts extra! Keine Schokolade und keinen Kaugummi! Den Zettel und das Restgeld abliefern! Nachher soll er das Gras schneiden. Mit der ziemlich stumpfen Grasschere. Sind aber eh nur ein paar Quadratmeter insgesamt. Es gibt einen Spindelmäher, ist aber nicht zu gebrauchen, total verrostet. Wenn man ihn schiebt, drehen seine Räder sich nicht, schleifen bloß über den Boden, also rotieren auch die Messerbalken nicht. Es geht auch mit der Schere leidlich.
Ein kleines Stück Gras ist geschnitten. Den Rest mach ich morgen, sagt Rainer, nimmt sein Fahrrad und verschwindet. Er schiebt es hinunter zum Ameisbach. Dort steigt er auf und radelt den gegenüberliegenden Hang hinauf zu einer kleinen Wohnsiedlung. Kleine alte Reihenhäuser aus den 1920er Jahren sind in vier Rechtecke gruppiert. Um die Anlage herum und kreuzförmig durch sie hindurch sind ruhige asphaltierte Anrainerwege gezogen. Rainer war beim Spazierenfahren zufällig dorthin geraten und auf zwei andere Buben mit Fahrrädern getroffen. Obgleich von Natur aus schüchtern, hat er sich ein Herz genommen und gefragt: "Kann ich mitfahren?" Die beiden haben einander unschlüssig angeschaut, dann aber entschieden, "Aber ja." Seither fahren sie miteinander durch die Gegend und treiben dabei ausreichend Unsinn. Zwei verschiedene Arten von 'Glöckerlpartien' gehören zum Programm. Bei der einen fährt man von einem Türl zum nächsten, läutet überall die Leute heraus und fährt davon. Die andere bedeutet, der Klangkörper der Fahrradglocke wird abgeschraubt und mitten auf die Straße gelegt. Dann fährt man mit dem Rad so an die Glocke heran, dass sie ein kleineres oder besser größeres Stück zum Wegrand geflippt wird. Der andere Radler versucht auf gleiche Weise das zu verhindern und seinerseits die Glocke an den jenseitigen Wegrand zu bugsieren. Wer zuerst den gegnerischen Straßenrand erreicht, gewinnt.
Die Veranda hat Rainer aus der Patsche geholfen, als er es wieder einmal vorgezogen hat, den blauen Frühlingsvormittag am Ameisbach unter blühenden Apfelbäumen zuzubringen, anstatt beim grauen Mathematikunterricht im grauen Klassenzimmer. Der Quartierwechsel zu mir heraus war in diesem Jahr noch nicht vollzogen. Also würde Rainer allein hier sein. Er hat sein Fahrrad am Zaun abgestellt und ist über denselben hier herein geklettert. Da es aber doch noch ziemlich frisch gewesen ist und das Aufwärmen im Sinne meines Onkels Schreber nicht das Seine, hat er sich an meine einzige durchgehend sonnenbeschienene Stelle zurückgezogen, das Dach der Veranda. Dort hat die dunkelgraue Dachpappe die Wärme angenehm gespeichert und unter dem Gesang der Amseln ist Rainer selig entschlummert. Die Eröffnung der Sommerresidenz ist kurz bevorgestanden und daher hat auch Tino den schönen Tag nutzen wollen, dafür Vorbereitungen zu treffen. Er hat sich sehr gewundert, Rainers Fahrrad vor der Gartentür angelehnt zu sehen, während von seinem Sohn weit und breit keine Spur gewesen ist. Etwas beunruhigt ist er seinen Obliegenheiten nachgegangen und nach ein paar Stunden wieder gegangen. Rainer ist die ganze Zeit auf dem Verandadach gelegen und hat sich nicht herunter getraut. Zwar hätte es keine Prügel gegeben, das ist außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit gewesen. Eine andere unangenehme Strafe hingegen sicherlich. Das Ärgste wäre wohl die Enttäuschung gewesen, die Rainer seinem Vater zugefügt hätte. Während seines erzwungenen Sonnenbads auf dem Dach zermarterte Rainer sich schon das Hirn nach einer plausiblen Ausrede. Direktorstag hätte sich angeboten. Der Schuldirektor hat jedes Semester einen Tag nach eigenem Ermessen frei geben können. Aber in diesem Semester hatte es schon wenigstens drei Direktorstage gegeben! Vielleicht Desinfektion der Schule wegen der ansteckenden Krankheit eines Schülers? Und Rainers Abwesenheit trotz der Anwesenheit seines Fahrrads? Da ist nur ein Spaziergang mit Ernstl infrage gekommen. Und wieso ist der nicht in der Schule gewesen? Klar: Direktorstag.
Unser Kleingartenvereinsobmann wird Freudentänze aufführen. Die Richter verkaufen. Mich. Angefangen hat es, als dieser stinkende, stotternde Lohner-Roller aufgetaucht ist, den Maria sich zugelegt hat. Es ist ein altersschwaches Gerät, springt oft nicht an oder stirbt aus unerfindlichen Gründen plötzlich ab. Für Maria ist er Surrogat für ihren Traum, eine Puch 250, so eine wie sie ihr Freund besitzt, der praktischer Weise auch Freund heißt. An seine Maschine hat er einen Beiwagen montiert. Das erleichtert Maria das Fahren. Tino und Rainer sind auch schon mit dem Freund mitgefahren. Rainer darf noch nicht auf den Sozius, ist noch zu jung. Er ist im Beiwagen mitgefahren, als Freund mit über hundert Sachen durch die neue Unterführung am Matzleinsdorfer Platz gerast ist. Freund wohnt an der Schüttelstraße. Dort am Donaukanal befindet sich auch die Werkstätte, wo er die 250er warten lässt. Einmal ist er die Schüttelstraße hinunter in Richtung zur Werkstätte gegangen, um die Maschine abzuholen. Da hat er schon von Weitem gesehen, dass etwas passiert sein musste. Die Polizei hatte die Straße abgesperrt. Die Feuerwehr ist auch da gewesen. Taucher haben ein Drahtseil über die Uferböschung ins Wasser gezogen. Freund ist interessiert unter den Schaulustigen gestanden und hat zugeschaut, wie eine Beiwagenmaschine aus dem Kanal gezogen worden ist. Als auch das Kennzeichen sichtbar geworden ist, hat er durchgedreht. Es ist seine Puch gewesen! Der Lehrbub von der Werkstätte hatte eine Spritztour mit dem Motorrad machen wollen und es hatte tatsächlich ordentlich gespritzt, als er von der Straße abgekommen und ins Wasser gestürzt war.