37 Die Polen kommen

Die Polen kommen

worin vorkommen: Oberlaa, Götzendorf/Leitha, Mannersdorf, Au am Leithagebirge, die Leitha, Rohrau, Schloss Harrach, Traiskirchen, Polen, Ungarn, der Rennweg, die Kirche 'Zum Heiligen Kreuz', das Untere Belvedere, Wroclav (Breslau), die CSSR, Prag, Traiskirchen, Jan Sobieski, Wojciech Jaruzelski, Gdansk, Karol Józef Wojtyla, Rom, Lech Walęsa, Jakuszyce, die UdSSR, Schönbrunn, Karthago, Kanada, das Etschtal, Affi, Mailberg, Bozen, Lonigo, Bergamo, Vicenza, Udine, Joseph Haydn, Michael Haydn, die Solidarność, der Prager Frühling, der WWF - World Wildlife Fund, die Malteser Ritter, sowie diverses Fluggetier

Mit der Bahn von Götzendorf nach Oberlaa, das ist kein berauschendes Erlebnis. Die Ostbahn ist durch die pannonische Ebene wie mit dem Lineal gezogen und verfehlt Götzendorf um gut einen Kilometer. In der Zeit, als die Eisenbahnstrecken geplant wurden, war man in den Orten noch recht froh, wenn die unheimlichen Rauch- und Feuerspucker einen Sicherheitsabstand zur Ansiedlung einhielten. Demzufolge geht man erst einmal diesen Kilometer zu Fuß zum Bahnhof, meistens im Sprint, weil zeitgerechtes Verlassen des Hauses eine Kunst ist, die nicht alle beherrschen. Es gibt keinen Zubringerbus. Gäbe es einen, müsste ich trotzdem sprinten, weil ich ihn bestimmt fast oder wirklich verpassen würde. Damals, glaube ich, habe ich mich in der olympischen Disziplin des Gehens perfektioniert. In der Jahreszeit mit den kurzen Tagen spiegelt dumpfe Finsternis rundum den Seelenzustand getreulich wider. Oft pfeift eine stürmische Brise über die Ebene. Wenn dazu auch noch peitschender Regen oder stechende Graupelkristalle kommen, kann die Begeisterung etwas nachlassen. Wenigstens bin ich bei meinem Morgensport nicht allein, denn mit mir wälzt sich eine völkerwanderungsähnliche Horde überwiegend schweigend durch die Gegend. Zwar führt vom Hauptbahnhof Götzendorf ein Anschlussgleis an Götzendorf City vorbei nach Mannersdorf zum Zementwerk, da verkehrt aber nur zweimal die Woche ein Güterzug. In Wien am Ostbahnhof angekommen muss ich zwei Straßenbahnlinien nehmen, um nach Oberlaa zu gelangen. Gesamte Wegzeit nicht unter einer Stunde. Es gibt einen Postbus von Au am Leithaberge über Götzendorf nach Wien, der braucht sogar noch länger, weil er alle und wirklich alle rechts und links der Route liegenden Ortschaften abgrasen muss. Er verkehrt auch nur alle heiligen Zeiten.

Oft bin ich nicht mit den Öffis gefahren. Stattdessen mit dem Fahrrad. Dreißig Minuten strampeln über gemächliche Landsträßchen von Götzendorf nach Oberlaa. Die Großstadt Wien berührt man nur am äußersten Rand und sie ist dort eher dörflich. Viel vergnüglicher als die Bahn. Dusche war im Raumschiff immer noch keine vorhanden. Bei schlechtem Wetter halt doch mit dem Auto. Fünfzehn Minuten, begleitet von etwas schlechtem Gewissen. Die Ölkrise war noch in guter Erinnerung. Tempolimits, autofreier Tag jede Woche. Als das im Herbst 1973 beschlossen wurde, war der Aufregung kein Ende. Man diskutierte stundenlang, welchen Tag man am besten wählen sollte. Man erörterte Abhilfemaßnahmen. Ein Zweitautoboom setzte ein. Man zerbrach sich den Kopf, mit welchen Argumenten man zu dem begehrten „S“ käme. Wer das rote „S“-Pickerl hatte, durfte jeden Tag fahren. Klar, dass Henndorf eins hatte. Die Aufregung dauerte drei Monate. Im Jänner 1974 wurde die Regelung wirksam. Sie war ganze fünf Wochen in Kraft, dann wurde sie ersatzlos gestrichen. Der Appell an die Vernunft aber wirkte lange nach, ich glaube sogar bis heute. Ich überlegte schon, ob eine Fahrt nicht vermeidbar war, bevor ich losfuhr. Nicht zuletzt wegen der Treibstoffpreise. Die waren in Höhen hinaufgeschossen, die man zuvor nicht für möglich gehalten hätte. Trotzdem, gefahren wurde immer. Mit unseren Klapprädern erforschten wir die Umgebung. Einmal fuhren wir die Leitha entlang hinunter bis nach Rohrau. Wir besichtigten die beeindruckende Gemäldegalerie im Schloss Harrach und Haydns Geburtshaus. Die Grafen Harrach haben wertvolle Bilder in ihrem stolzen Schloss zusammengetragen, aber in dem schlichten, niedrigen Dorfhaus in unmittelbarer Nähe wurden gleich zwei große Musiker geboren, Joseph und Michael Haydn, wobei Joseph in den Kreis der allergrößten aufsteigen sollte. Das Haus war soeben liebevoll restauriert worden und in den Grundzügen unserem Götzendorfer Heim so ähnlich. Der hübsche Innenhof mit dem Arkadengang, gebildet aus elliptischen Bögen zwischen soliden Mauersäulen, ging mir nicht mehr aus dem Sinn.

Vor dem Rückweg setzten wir uns an einen der Tische vor einem bäuerlichen Gasthaus. Wir hätten Limonade bestellen sollen, aber eine lustige Wirtin redete uns selber gemachten Ribiselwein ein. Annamaria wollte das kennenlernen und so folgten wir dem Vorschlag. Der hellrote, süße Wein schmeckte Annamaria. Das große Heurigenglas war rasch ausgetrunken, denn es war sehr warm und das Radfahren hatte uns durstig gemacht. Nach dem zweiten Glas spürten wir den Alkohol klar und deutlich und die Strecke zurück nach Götzendorf, die uns schon vor der Abfahrt lang erschien, wurde unterwegs immer länger. Es war, als würden wir rückwärtsfahren. Was blieb uns anderes übrig, als weiter zu strampeln. Zuhause waren wir fast wieder nüchtern, fielen aber trotzdem sofort ins Bett und in einen tiefen und langen Schlaf.



Die Felder zu beiden Seiten der Landstraße sind voller Wild. An den Windschutzstreifen stehen die Rehe. Hasenfamilien spielen Fangen und Fasane balzen. Nicht nur in den Feldern, natürlich auch auf der Fahrbahn. Solange ich mit dem Rad fuhr, bereiteten mir die lustigen Tiere Vergnügen. Im Auto unterwegs änderte sich das bald. Die Hasen versuchen wenigstens, dem Auto zu entkommen. Die Fasane hingegen sind Selbstmörder. Wenn sie es knapp vor dem heranbrausenden Wagen über die Straße geschafft haben, kehren sie um und stürzen sich förmlich in den sicheren Tod. Auf diese Weise hat sich unser Speiseplan beträchtlich angereichert. Nicht dass ich die hübschen Tiere absichtlich gejagt hätte. Wenn aber ihr Tod schon unvermeidbar war, so sollte er wenigstens nicht ganz sinnlos gewesen sein.


Mondlicht, das durch Waldlaub bricht,

schwarzes Dickicht, weiches Moos;

kennst du deine Grenzen nicht?

Was trieb dich herüber bloß?

 

Plötzlich krallt in Asphalt

Funkenschlagend sich dein Huf

Und er findet keinen Halt.

Muskelzucken, Strecken, Ducken,

Nüstern blasen Todesruf!

Und ein letztes Speichelschlucken.

 

Einer Sehnsucht, einem Wittern

Hast du arglos nachgestellt.

Einer Wahrheit, einer bittern:

Hart und fremd grenzt Welt an Welt.

14.7.1981

An allen Telefon- und Lichtmasten in Götzendorf kleben hässliche Flugzettel: „Wir wollen keine Polen!“ Protest gegen das geplante Flüchtlingslager in der Kaserne, weil das Lager Traiskirchen übergeht. Traurig, den meisten Götzendorfern spricht das Plakat aus der Seele. Frau Berger, deren Hühner unsere Eier legen, vertraut mir sogar an, sie habe Angst, nachts von den Polen vergewaltigt zu werden. Für sie wiederholen sich die Zeiten, als die Russen einmarschierten. Ich sehe ein, es wäre eine heikle Sache, ihre Erwartungen als unwahrscheinlich abzutun und lasse ihr also ihre geheimen Schauer. Mir jedenfalls ist ein Flüchtlingslager in der Gegend lieber als ein Waffenlager.


Mit einem Mal änderte sich die beschauliche Ruhe auf der Landstraße. Am Ortsende von Götzendorf standen Richtung Wien plötzlich alle zwanzig Meter ein bis drei Autostopper. Das Wetter war schon winterlich und die Leute froren sichtlich im Ostwind, der ungehindert über die Felder strich. Die Nachrichten waren voll mit Berichten über die Krise in Polen. Das Volk kämpfte mit Solidarność und im Schutz der Kirche gegen die kommunistische Diktatur um seine Freiheit. Das Kriegsrecht wurde verhängt. Die Rote Armee drohte einzumarschieren. Viele Polen flüchteten, auch nach Österreich. Nach der Volkserhebung in Ungarn und dem Prager Frühling war dies nun die dritte große Flüchtlingswelle, die auf uns zukam. Soweit sie nicht untertauchten und versuchten, sich auf eigene Faust durchzuschlagen, kamen alle Flüchtlinge ins Lager nach Traiskirchen. Dort wurden sie registriert und ihre Asylanträge wurden entgegengenommen. Dann wurden sie in Notunterkünfte geschickt, die sich oft in Kasernen befanden. Eine davon war die Panzerkaserne in Götzendorf. Angesichts der erbärmlichen baulichen Zustände in der Kaserne, die fernab jeglicher Zivilisation einsam in der pannonischen Ebene liegt, war es klar, dass die Leute dort nicht ständig bleiben wollten und nach Möglichkeiten suchten, besser unterzukommen und illegal zu arbeiten. Sie stellten sich daher an die Straße und trampten nach Wien. Dort suchten sie unter anderem Kontakt zur Polnischen Gemeinde, die in der kleinen Kirche ‘Zum Heiligen Kreuz’ am Rennweg gegenüber dem Unteren Belvedere ihren Sitz hat, in der oft berechtigten Hoffnung, religiösen Trost und materielle Unterstützung zu finden. Viele Wiener lieferten ihre Hilfsgüter direkt dorthin.

Für einen, der früher so oft profitiert hat von Autofahrern, die ihn mitnahmen, war es selbstverständlich, nun seinerseits die Polen einsteigen zu lassen. Sie waren zu dritt. Der von ihnen am besten Deutsch sprach, war klein und schmal, ein chaotisch wirkender junger Mann. Die Augen unter seiner tief ins Gesicht gezogenen Wollmütze sprangen unstet umher. Im Wagen nahm er die Wollmütze ab und offenbarte damit die breite Stirn und darüber blondes Haar in wirren, schütteren Strähnen. Er hatte Schwierigkeiten mit dem Sprechen. Ich fragte mich, ob die Kälte daran schuld war oder die polnische Artikulation oder seine Zähne, die wild durcheinander standen, zum Teil vor den Lippen. Seine Kleider waren zu groß und abgewetzt. Ich musste an die elenden Figuren aus Wochenschaubildern aus den KZ denken. Dass er nach Wien wollte, war sowieso klar. Er hieß Ryschard (wie das geschrieben wird, erfuhr ich erst später), stammte aus einem Ort nahe Wroclaw und war bis zu seiner Abreise dort Lehrer gewesen. Ich glaubte mich zu erinnern, dass es sich bei Wroclaw um das frühere Breslau handelt. Zu viel mehr Konversation kam es nicht, einerseits war die Strecke kurz und andererseits dauerte es immer eine Weile, bis nach mehrfachem Nachfragen das Gesprochene sinnhafte Gestalt annahm. Ich ließ die drei in Oberlaa an der Straßenbahnhaltestelle aussteigen. Ryschard fragte, ob ich am Abend wieder nach Götzendorf fahre. Ja, sagte ich, ich wüsste aber noch nicht, wann. Nicht vor fünf, jedenfalls. Dann fuhr ich das kurze Stück von der Haltestelle zum Raumschiff, wobei mich die drei Polen offenbar beobachteten.

Am Abend um halbsechs kam Ploner von einem Dienstweg zurück. Ziemlich aufgeregt teilte er mir mit, dass unten auf dem Parkplatz neben meinem Wagen drei abgerissene Gestalten herumlungerten, die er weggescheucht habe. Jetzt stünden sie aber wieder dort, ich sollte hinunterschauen. Der Parkplatz war dunkel, nur durch das Licht erhellt, das aus den Fenstern fiel. Es schneite. Trotzdem erkannte ich sofort Ryschard und seine zwei Genossen. „Die fahren mit mir nach Götzendorf“, sagte ich. Ploner verstand gar nichts mehr. Ich erklärte es ihm, aber er sagte kein Wort.

Unterwegs nach Götzendorf gab Ryschard mir zu verstehen, dass es ihm und vielen seiner Leidensgenossen schwerfiel, Informationen zu erhalten, was bei ihnen zuhause vorging. Es gab ja noch keine Smartphones. Telefonieren ins Ausland war nicht leistbar. Im ganzen Flüchtlingsbereich der Kaserne gab es keinen Fernseher. Ich brachte Ryschard und Co. bis ans Kasernentor. Der Posten davor schaute mich an wie einen Vaterlandsverräter, als ich die drei aussteigen ließ. Ich versprach Ryschard einen alten Schwarz-Weiß-Fernseher. Morgen Abend würde ich ihn bringen.

Tags darauf war ich wieder vor dem Kasernentor, den klobigen Fernsehkasten im Auto. Ich verlangte von dem Posten, mich hineinfahren zu lassen. Als er die Kiste im Wagen sah, begann er, Probleme zu machen. Auf sowas hätten die Flüchtlinge keinen Anspruch. Ich sagte, es wäre ein Geschenk vom Blecha-Charly, gegeben mit dem Hintergedanken, dass die Flüchtlinge eine österreichische politische Bildung benötigten. Das hat ihn überzeugt. Er erklärte mir den Weg zum richtigen Gebäude und hob den Schranken. Ich fand das Mannschaftshaus und Ryschard, der wie seine Genossen im Stockbett döste. Als sie hörten, es ginge um einen Fernseher, waren alle sofort munter. Sie trugen die alte Kiste in ihre Stube und probierten sie gleich aus. Die Kiste funktionierte schlecht, jedenfalls sprach sie nicht polnisch. Sie waren damit so beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkten, wie ich mich davonmachte.

11.8.1981

Mit Ryschard die Idee erörtert, für einige Polen einen Englischkurs abzuhalten. Heute will ich mit dem Lagerkommandanten darüber sprechen. Er ist ein kleiner, rundlicher Mann Ende fünfzig. Regierungsrat Stadler. Er verzehrt gerade sein Frühstücksbrot. Im Prinzip ist er nicht gegen meinen Plan, notiert sich meinen Namen und die Adresse, aber ich merke, er hat ganz andere Sorgen. Er kann auch keinen Raum zur Verfügung stellen, hat keine Möbel. Wenn sich die Möglichkeit ergibt, wird er auf mein Angebot zurückkommen.

Ryschard traf ich wieder beim Autostoppen. Ich hatte schon einen anderen Fahrgast aufgenommen, als ich ihn am Fahrbahnrand erkannte. Ich nahm also auch ihn mit. Auf der Rückfahrt fuhr ich nicht gleich zur Kaserne. Ich brachte ihn mit zu uns nach Hause. Annamaria begrüßte ihn mit ihrer ganzen Wärme. Wir aßen Pasta und tranken Rosso. Ryschard war etwas verwirrt, er glaubte sich nach Italien versetzt. Wir erfuhren, dass er auf seine Freundin wartete, die demnächst in Wien ankommen sollte. Es wurde eine der langen Nächte wie immer, wenn Ryschard erzählte, wenn wir bei Zigaretten, Rotwein und dann auch Grappa zu diskutieren anfingen über Polen, über Österreich und über alles in der Welt.

Schon vor längerer Zeit hatten wir im Gartenflügel einen kleinen Umbau vornehmen lassen. Das Kokslager war in einen der Schuppen verlegt worden, das Zimmer gesäubert, ein Kunststoffboden verlegt und mit einfachen Möbeln ein hübsches Wohn-Schlafzimmer gestaltet, die angrenzende Waschküche war halbiert immer noch groß genug. Ihren hinteren Teil hatten wir zugemauert, der war danach nur noch durch eine neue Tür vom Gartenzimmer aus zugänglich. Dort hinein hatten wir ein kleines Bad mit WC und Dusche gebaut und anschließender Sauna. Annamaria liebte die Sauna. Mir war es dort viel zu heiß. Die gemauerte Ecke im Zimmer mit der abgetrennten Toilette hatten wir ganz entfernt. Das Zimmer war dadurch viel geräumiger geworden. Es gab keine eigene Küche, aber unsere stand zur Benutzung bereit. Den Umbau hatten wir teils für Besuche des Quartetts, teils für Gäste und teils auch für uns selbst vorgenommen. Während Angelas Aufenthalt hatte sich der Umbau bereits bewährt. Ohne viel darüber zu diskutieren waren Annamaria und ich uns einig, Ryschard würde, falls er das wollte, unser Gast sein. Sein Quartier würde zugleich einfach und luxuriös sein, jedenfalls viel besser als jede Kaserne. Als wir Ryschard den Vorschlag machten, war er zutiefst gerührt. Erfolglos bemühte er sich, die Tränen zu unterdrücken. Lange hatte es für ihn so ausgesehen, als sollte der Traum von der Freiheit in Unglück und widerborstiger Bürokratie versinken. Jetzt ließ die Zukunft einen ersten Lichtblick zu.

Die folgenden Tage richteten wir das Zimmer noch weiter her für einen dauerhaften Aufenthalt. Es kamen immer mehr Menschen aus Polen an. Die Behörden konnten den Ansturm nicht mehr bewältigen. Die Stimmung in der Bevölkerung war zwiespältig. Viele begrüßten die Ankömmlinge freundlich und spendeten Sachen und Geld. Im Vergleich zu den vorangegangenen Krisen in Ungarn und der CSSR wuchs aber schon der Anteil jener, die keine neuen Ausländermassen mehr vertragen wollten. Der Einfluss der Politiker und Medien auf die Einstellung der Bevölkerung ist in dieser Frage größer als bei anderen Themen. Es sind viel mehr Emotionen im Spiel, persönliche wie kollektive. Viele Politiker versuchen, diese Emotionen für ihre Zwecke auszunützen und manches Medium verstärkt noch diesen Trend. Die flüchtenden Ungarn waren noch als Freiheitskämpfer bejubelt worden. Jetzt stellte Kanzler Kreisky pragmatisch fest, dass über die Polenflüchtlinge in der Bevölkerung großer Unwille herrsche und man daher die Visapflicht wiedereinführen müsse. Der Kontrast spiegelte sich in der Beamtenschaft wider. Manche agierten verständnisvoll, andere ritten boshaft den Amtsschimmel. Wir bekamen es zu spüren, als wir die Formalitäten für unseren Schützling erledigen wollten. Man sah die Polen lieber schön beisammen in der Kaserne, man glaubte, da könne man sie besser kontrollieren als zerstreut in der ganzen Gegend. Im Zuge unserer Behördenkontakte wegen der Anmeldung bemerkte ich, dass Ryschard korrekt Ryszard geschrieben wurde. Die Anmeldung war noch nicht durch, da holte ich mit Ryszard schon seine wenigen Sachen aus der Kaserne. Den Fernseher ließen wir bei seinen Landsleuten. Ryszard wohnte fortan bei uns. Das bedeutete weitere Nächte mit Alkohol und Reden. Ryszard erzählte von den Lebensumständen in Polen, von der schlechten Versorgungslage, von der Arbeitslosigkeit der einen und den Hungerlöhnen der anderen, von der daniederliegenden Gesundheitsversorgung, von Korruption und Spitzelunwesen, der Übermacht der Dummen und der Ohnmacht der Denkenden. Oft kam mir der Gedanke, so ganz unbekannt wären viele Missstände auch uns hier nicht, wenngleich vielleicht auf niedrigerem Niveau. Als ich das einwarf, schaute Ryszard mich ungläubig an. „Aber, euch geht es doch gut, ihr seid hier doch im Paradies“. Mir war nicht klar, ob es ein Statement war oder eine Frage. Tatsächlich hatte ich keinem Beamten, auch nicht den gemeinen, auch nur einen Schilling gegeben, um schneller zum Erfolg zu kommen. Ich merkte, dass Ryszard zur Depressivität neigte. Ich versuchte es deshalb hinauszuzögern, aber schließlich musste ich mit Bestimmtheit darauf dringen, auch einmal zu schlafen. Dann rauchte und trank Ryszard traurig allein.

29.11.1981

Ryszards Aufenthalt bei uns ist Routine geworden. Längst bewohnt er ständig unser Gästezimmer. Zwischendurch verschwindet er unangekündigt für einige Tage, um ebenso unverhofft wieder aufzutauchen. Einerseits wollen wir seine Freiheit nicht einschränken, andererseits missfällt uns sein Ausbleiben und dann überraschendes Erscheinen zum Essenstisch. Mit Enttäuschung registriere ich, dass Ryszard weder studiert (was ihm als Asylwerber auch verboten ist) noch schreibt, kaum liest. Von nennenswerter Hilfe in Haus und Garten kann auch keine Rede sein. Man kann sich, sage ich mir, seinen Flüchtling nicht aussuchen. Auch dieses Verhalten wird seine Ursache haben. Die Hilfe kann man nicht entziehen.


Eines Abends sagt Ryszard, seine Freundin aus Wrocław werde bald nachkommen. Er erwarte ihre Ankunft mit dem Zug heute Abend. Ob sie für einige Tage bei uns bleiben könne, bis er für sie beide etwas gefunden habe. Wir stimmen zu, obwohl wir finden, dass darüber auch früher gesprochen hätte werden können. Die Zeit vergeht, Ryszard ist nach Wien zum Südbahnhof gefahren. Es ist so wie mit Budapest. Du fährst in Wien vom Westbahnhof ab und kommst in Budapest am Ostbahnhof an. Aus Polen fahren die Züge in Wien den Südbahnhof an. Die Zeit des letzten Zugs nach Götzendorf ist längst vorbei. Keine Spur von Ryszard und seiner Freundin. Wir gehen schließlich zu Bett:

30.11.1981

Ryszard meldet sich am Abend am Telefon. Seine Freundin sei jetzt da. Ob er sie bringen dürfe. Gestern habe er umsonst gewartet, habe dabei zwei fremde Polen kennengelernt und, da es schon spät war, bei ihnen in Wien übernachtet. Also wieder lange aufbleiben, die beiden werden mit dem letzten Zug kommen. Ich fahre nicht zum Bahnhof, weil ich verstimmt bin. Ryszard hätte gestern wenigstens telefonieren können. Aber ich bereue es sofort, als die beiden ankommen. Ryszard und Halina in schwarzer, unfreundlicher Nacht, noch etwas außer Atem vom Marsch vom Bahnhof her, schwer bepackt mit Reisetaschen und vollgestopften Einkaufstaschen. Menschen auf der Flucht.

Ich bringe die beiden zum Gästezimmer, beruhige dann Annamaria. Ich glaube, Halina ist ein sehr liebes Mädchen. Das bewahrheitet sich noch in derselben Nacht, als wir Halina bei einem kleinen Imbiss kennenlernen. Sie spricht kaum Deutsch, aber wir verstehen uns auch so aufs Beste. Die kleine, rundliche Frau gibt sich freundlich, dankbar und bescheiden. Ihr Tonfall ist überaus herzlich und kultiviert. Annamaria fragt Ryszard, der sich scheut, selber das Thema anzuschneiden, ob er mit Halina im Gästezimmer bleibt. Er errötet wie ein Schulbub und es dauert lange Augenblicke, bis er sich entschließt. Selbstverständlich bleibt er. Willkommen, Halina.

5.12.1981

Ryszard in der Ecke an unserem Küchentisch. Annamaria will Klarheit über sein Verhältnis zu Halina. D eren Blicke für Ryszard lassen keinen Zweifel offen: Sie liebt ihn. Wäre sie sonst Hals über Kopf ihm ins Ungewisse, ins Exil gefolgt? Und Ryszard? Man weiß nicht genau. Verliebt scheint er nicht zu sein. Aber weshalb wohnt er dann bei Halina? Annamaria möchte das herausbekommen.

Ryszard ist sehr niedergeschlagen. Sein Pessimismus ist bedrückend. Er fühlt sich verpflichtet, sich um Halina zu kümmern. Er sagt es so, dass man seine Angst vor dieser Sorgepflicht erkennt. Annamaria versucht mithilfe ihrer überirdischen positiven Kräfte Ryszard aufzurichten, Mut zu machen. Zwei, die an einem Strick ziehen, meistern eine schwierige Situation leichter als ein Einsamer. Ich bewundere meine Frau. Wo in diesem kleinen Körper steckt all der Lebensmut, der nicht nur für sie selbst, sondern noch für viele andere reicht? Ryszard allerdings bleibt skeptisch. Der klare Blick seines Intellekts bleibt auf trostlose Fakten gerichtet, erkennt nicht das ätherische Himmelblau, das über den grauen Wolken liegt und strahlend zum Vorschein kommen wird, sobald jene sich verziehen. Ebenso skeptisch hatte vor Jahren Rudi Höss gelächelt während Annamarias Seelenmassage. Ryszard tischt Argument um Argument auf, um das Verzweifelte seiner Lage hervorzukehren. Nichts kann Annamaria beeindrucken. Da rückt Ryszard endlich heraus mit der Wahrheit. Er habe schon manchmal mit sich gekämpft, ob er uns seine ganze Geschichte erzählen solle. Jetzt, in Anbetracht unseres Gesprächs könne er nicht anders.

„Damals an der Uni von Wrocław, ich war Assistent für Germanistik. Die Bezahlung war mies. Einem Hilfsarbeiter vergleichbar. Also verbrachte ich die Ferien in Prag, um als Fremdenführer etwas dazuzuverdienen. Ich habe dort ein Mädchen kennengelernt. Unsere Kontakte haben sich vertieft, selbst als ich nach den Ferien wieder nach Polen musste. Die Post hat daran blendend verdient. Wann immer sich Gelegenheit bot, habe ich Tereza besucht. Die nächsten Ferien verbrachte ich natürlich wieder in Prag. Unsere Verbindung wurde immer tiefer. Eines Tages kam von Tereza die Nachricht, sie wäre schwanger. Wir haben in Prag geheiratet. Ich war fest entschlossen, in der CSSR zu bleiben bei Tereza. Das verstieß offenbar gegen hohe Staatsinteressen. Bevor Polen mich gehen lassen würde, müsste ich dem Volk die Kosten für meine Ausbildung zurückzahlen. Wenn auch die Forderung äußerst schmerzlich war, sie entbehrte nicht einer gewissen Logik. Dass aber dabei auch die Kosten für Kost und Quartier während meiner zwei Jahre Wehrdienst enthalten gewesen wären, schlug dem Fass den Boden aus. Mir wurde klar, das kommunistische Polen war mein Gefängnis und würde es bleiben für lange Zeit oder für immer. Ebenso wenig konnte Tereza in Erwägung ziehen, zu mir nach Polen zu kommen. Die CSSR hätte sie nicht gehen lassen, bevor sie die Kosten für ihre Ausbildung erstattet hätte. So sorgte die hohe Politik für die Zerstörung des hoffnungsvollsten Unterfangens zweier junger Menschen – oder vieler. Was blieb mir anderes übrig, ich begann auf meine Ablöse zu sparen, sparte daher auch bei meinen Reisen nach Prag. Bei jeder Auslandsreise musste man bei der polnischen Bank Devisen hinterlegen. Meine Tochter kam zur Welt, ich war nicht dabei. Bei einem späteren Besuch in Prag kam es zum Streit. Terezas Familie behandelte mich wie einen Lumpen. Mein Kind würde wenigstens dreißig Jahre alt sein, bevor ich das Geld für die Ablöse zusammen haben würde, rechneten sie mir vor. Ich sollte lieber Alimente an Tereza zahlen. Die Familie war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, Tereza behandelte mich wie einen Fremden. Wenige Wochen nach meiner Rückkehr nach Wrocław brachte derselbe Briefträger, der früher Terezas Liebesbriefe zugestellt hatte, einen Einschreibebrief mit der Scheidungsklage. Ich wehrte mich dagegen. Trotz allem war ich immer noch verliebt in Tereza und unsere kleine Tochter. Ich schrieb ihr das. Unter dem Einfluss ihrer Familie und der hohen Politik bestand Tereza auf die Auflösung der Ehe. Dazu war es unumgänglich, mich mit allen möglichen Vorwürfen, gerechtfertigten und nicht gerechtfertigten, zu belasten. Es kam zur Verhandlung. Die Ehe wurde geschieden. Ich erhob Einspruch. Tereza behauptete, die Berufung sei abgewiesen worden. Trotz aller Bemühungen erhielt ich dafür nie eine offizielle Bestätigung. Das bedeutet, ich weiß bis heute nicht, ob ich verheiratet bin, Verantwortung trage für Frau und Kind, oder geschieden und frei.“

Ryszard hat erzählt und wir haben betroffen zugehört. Besser verstehen wir – auch nach Abzug dessen, was an seiner Geschichte vielleicht subjektiv oder übertrieben sein mag, weshalb Ryszard aus dem Kerker ausgebrochen ist, sobald sich Gelegenheit dazu ergab. Plötzlich sehe ich in Ryszard nicht mehr den jungen Mann, der sein Land verlässt, teils aus Abenteuerlust, teils um bessere wirtschaftliche Verhältnisse zu finden. Aus dem jungen Ryszard ist plötzlich so etwas wie ein alter Mann geworden. Nicht reich an Jahren zwar, aber doch ein alter Mann, der schon ein Schicksal hinter sich hat.

7.12.1981

Die letzten Tage war Ryszard ständig bei uns. Sein häufiges Ausbleiben hat mit Halinas Ankunft plötzlich aufgehört. Halina hat sich vom ersten Tag an im Haushalt nützlich gemacht. Sie hat so ein angenehmes, rücksichtsvolles Wesen. Wir haben sie gern bei uns.

Trotzdem müssen wir uns für eine Weile von ihr trennen. Um den offiziellen Status einer Asylwerberin zu erlangen und als solcher die staatlichen Zuwendungen in Anspruch nehmen zu können, muss Halina ins Flüchtlingslager Traiskirchen. Einige Tage lang wird sie sich dort in der geschlossenen Abteilung aufhalten müssen, die man ‘Quarantäne’ nennt. Das ist erniedrigend. Während dieser Zeit wird ihr ‘Fall’ behördlich festgestellt und überprüft. Zwar hat Ryszard versucht, sie im Lager Götzendorf unterzubringen, denn auch hier gibt es einige weibliche Flüchtlinge, aber man hat ihm gesagt, „in Götzendorf gibt’s kane Weiber und die paar Hurln werdn ma a no los.“ Erniedrigend.

Also fahren wir Halina in die Quarantäne. Schon bei Annäherung an das Lager herrscht Chaos. Es geht zu wie vor dem Heerlager Sobieskis. Menschen stehen in Gruppen vor dem gusseisernen Zaun, diskutieren, handeln, schlafen auf dem Gehsteig oder picknicken. Einheimische, die Decken spenden wollen, dürfen nicht ins Lager, laden ihre Hilfsgüter einfach am Zaun ab. Eine lange Menschenschlange wartet vor dem Torwächterhäuschen, viele wollen ins Lager, müssen sich ausweisen, ebenso viele wollen heraus, müssen sich ausweisen, viele haben ein ganz anderes Anliegen. müssen sich ausweisen, vor allem aber warten.

Wir beschließen noch auf einen Kaffee zu gehen, bevor wir Halina den Behörden übergeben. Das kleine Lokal ist ebenfalls voller Flüchtlinge. Wir finden gerade noch Platz an einem Tisch bei einem Flüchtling aus Rumänien. Er spricht recht gut deutsch. Kein Wunder, er ist schon vier Jahre lang hier in diesem Lager. Man kann das aushalten, sagt er. Aber ich spüre, das ist erniedrigend.

Schließlich lässt sich der Moment nicht länger aufschieben. Wir begleiten Halina zum Schlagbaum. Herzliche Umarmung, dann erklärt Ryszard den Beamten, es ist eine Neue angekommen.

12.12.1981

Die Quarantäne ist eine schreckliche Erfahrung für Halina. Das hässliche heruntergekommene Kasernengebäude, die überfüllten Massensäle mit den militärischen Stockbetten, kein Unterschied mehr zwischen Wohnen und Schlafen, das lieblos auf den Teller geklatschte Fressen einnehmen auf besudeltem Tisch, überall verzweifelte, ungepflegte Menschen, die haarsträubend unhygienischen Zustände, vor allem aber das Eingesperrt sein, das Nichthinauskönnen und die Ungewissheit, wie lange das dauern wird. Manche bleiben keine zwei Tage, Andere sind seit Wochen hier, keine Möglichkeit sich zu informieren, an seine vergessene Existenz zu erinnern.

Ryszard ist es ein paarmal gelungen, am Torposten vorbei mit Halina zu sprechen. Bitte Ryszard, tu was, hol mich hier raus, hat sie ihn angefleht. Ryszard interveniert in der Lagerkanzlei. Er hat die Wartenummer 387 gezogen. Kein Platz für Individuelle Anliegen. Zu groß ist der Flüchtlingsstrom.

Tags darauf fahre ich mit Ryszard nach Traiskirchen. Wir fahren zeitig, vielleicht ist die Warteschlange dann kürzer. Um acht sind wir vor dem Tor.

Vor der Kanzlei die endlose Menschenschlange. Wir ziehen die Wartenummer 215, wechseln uns stündlich ab beim Anstehen. Gegen Mittag sind wir an der Reihe. Die männlichen und weiblichen Beamten sind im Grunde gutwillig, doch überfordert und deshalb gereizt. Bevor irgendetwas unternommen wird, muss ich ein Dokument hinterlegen. Ich gebe meinen Führerschein. Der Torposten wird ihn mir ausfolgen, wenn ich das Lager verlasse. Man sucht Halinas Akt, gibt Anweisung ans Hotel Hilton (so nennt der Galgenhumor der Flüchtlinge die Quarantänestation), Halina auszuquartieren. Alles scheint zu klappen wie am Schnürchen, bis man mir eine Erklärung zur Unterschrift vorlegt, wonach ich persönlich in die Verpflichtung des Staates zur Betreuung Halinas eintrete und für alle anfallenden Kosten aufkommen werde. Bei allem guten Willen, das geht zu weit! Wenn ich Halina Kost und Quartier anbiete und dem Staat damit eine Sorge abnehme, weshalb sollte ich dafür noch bestraft werden, indem ich eventuell für Halinas Krankenbehandlung aufkommen müsste? Der Beamte nimmt meine Bedenken unwirsch auf. Er denkt, mir gehe es um eine finanzielle Abgeltung für Halinas Aufenthalt bei mir. Das ist peinlich und erniedrigend. Also müsse Halina doch im Lager bleiben. Eine andere Möglichkeit gebe es nicht. Was für ein haarsträubender Unsinn! Ein Lagerplatz könnte frei werden. Sicher, ein Tropfen auf den heißen Stein, aber sicherlich kein Einzelfall. In diesem Tohuwabohu hier berühren einander das Chaos, das Bemühen des Amtsschimmels um Ordnung und, da es sich um eine internationale und hochpolitische Sache handelt, der Argwohn im staatspolizeilichen Auge. Sinnhaftigkeit und Logik haben hier ausgespielt.

Immerhin muss Halina, inzwischen aus dem Hilton ausquartiert, nicht in die Quarantäne zurück. Telefonisch die Anweisung ans allgemeine Lager, einen Platz für sie vorzusehen. Ryszard und ich begleiten Halina in den zugewiesenen Block. Uns bietet sich ein Bild des Entsetzens. Muffiger Gestank auf dem kasernenblockartigen Gang. An der Wandseite steht, eins neben dem anderen, eine endlose Reihe von Stockbetten. Auf und in ihnen kauern lesende, schlafende, rauchende, leeren Blicks in die Luft starrende, schreibende, schnarchende, essende, einander die Haare schneidende, trinkende, diskutierende, sich rasierende, streitende, hustende, weinende männliche und weibliche Kreaturen. Man scheint sich für geschlossene Fenster entschieden zu haben. Dreck und Gestank sind weniger schlimm als die feuchte Kälte, die ohnedies durch die einfachen undichten und beschlagenen Fenster hereinkriecht. Manche haben sich durch Aufspannen von Bettdecken kleine Kojen aus zwei oder drei Stockbetten gebaut, die elitären Ein- und Zweifamilienhausbesitzer unter den Elenden. Zwischen diesen trennenden Decken und dem lungernden Papa springen einige verschieden große Kinder umher. Fremde Laute schreiend spielen sie Fangen. Kofferradios dröhnen unverständliche Nachrichten in verschiedenen Sprachen. Im Vorbeigehen sehen wir durch offene Türen, dass es in den großen Kasernensälen nicht besser zugeht. An einem Tisch wirft ein einsilbiger Magazineur Halina zwei Decken und eine Blechmenage hin. Sie soll sich auf dem Gang ein leeres Bett suchen.

Über Gepäckstücke, auf den Boden gefallene Handtücher, spielende Kinder und Erbrochenes hinweg steigen wir den Gang zurück. An einem Fenster halte ich an. Mein Entschluss steht fest. Halina bleibt nicht hier. Wir beraten, wie wir Halina durch das Haupttor am Schlagbaum vorbei aus dem Lager bringen können. Schließlich gehen wir frech auf das Tor zu, auf das Durcheinander von Dutzenden Leuten, die hinaus- oder hineinwollen. Ich voran, eng dahinter Ryszard und ebenso eng hinter ihm Halina. Während ich die Verhandlung mit dem Torposten über meinen Führerschein etwas intensiviere, passieren hinter mir Ryszard und Halina zur Straße hinaus. Froh und erleichtert fahren wir Götzendorfu.

Halina war ganz außer sich vor Aufregung. Ihr Deutsch war besser als Ryszards, jedenfalls die Aussprache. Teils polnisch, teils deutsch sprudelte es nur so heraus aus ihr, wie es ihr im überfüllten Lager ergangen war. Die schrecklichen hygienischen Zustände. Die Ausgabe des ekligen Zeugs, Essen genannt, für das man stundenlang Schlange stehen musste. Nachts Decke an Decke mit wildfremden Leuten. Sie stoppte erst, als wir vor dem Haus in Götzendorf hielten. Ryszard trug sie auf seinen Armen über die Schwelle ihrer kleinen Wohnung. Halina umarmte uns vor Freude.

13.12.1981

Das Militär hat in Polen die Macht übernommen. In einer Radiorede hat General Jaruzelski das Kriegsrecht ausgerufen. Alles ist verboten. Versammeln verboten. Streiken verboten. Reisen verboten. Reden verboten. Schreiben verboten. Lesen verboten. Denken verboten. Leben verboten.

 

15.12.1981

Über einen Bürokollegen, der angeblich über sieben Ecken Einfluss beim Innenministerium hat, versuche ich zugunsten Ryszards zu intervenieren. Sobald ihm der Asylstatus zuerkannt wird, darf er eine Arbeit oder ein Studium aufnehmen. Wir verfassen einen Lebenslauf und halten darin auch seine Zukunftspläne fest, nämlich ein Dolmetschstudium. Offizielle Antwort kommt keine, aber inoffiziell lässt mein Kollege durchblicken, dass Ryszard nicht so bald anerkannt werden wird. Es sei ein Fehler gewesen, sein Interesse an einem Studium anzugeben. Als Asylant hätte Ryszard Anspruch auf ein Stipendium und das würde, die vielen gleichartigen Fälle berücksichtigt, den Staat eine schöne Stange Geld kosten…

Halina war eine kleine, etwas rundliche Dame, immer fröhlich und gut gelaunt, aber besonnen, fürsorglich, ordentlich, geschickt, hausfraulich und zupackend, das genaue Gegenteil von Ryszard. Ihr Akzent verriet, dass sie keine Italienerin war, hätte aber ansonsten sehr gut eine sein können. Was sie konnte, hatte sie in ihrem Elternhaus gelernt und sie konnte alles. Auch Halina kam aus der Gegend um Wrocław, hatte dort zusammen mit ihrer Mutter und der Schwester gelebt. Sie war ausgebildete Bauingenieurin, hatte aber noch nie in ihrem Beruf gearbeitet. Zum Einstand kochte sie für uns alle Borschtsch. Eine sehr gelungene Premiere. Ab sofort war unser Speiseplan nur noch zur Hälfte italienisch, zur anderen polnisch. Einfühlsam fand Halina rasch heraus, wie sie sich in unserem Haushalt am besten nützlich machen konnte, und das tat sie unaufgefordert, unauffällig und perfekt. Sie verstand sich mit uns beiden hervorragend und was mir besonders wichtig war, vor allem mit Annamaria. Das fügte sich wunderbar mit dem Umstand, dass Annamaria jetzt immer mehr Jobs bekam, zu denen sie verreisen musste. Für den Haushalt blieb ihr dadurch weniger Zeit als früher.

*

Dass Ryszard das geschafft hat! Ich komme in Österreich an und er hat schon ein Privatquartier organisiert. Eine liebe kleine Wohnung, in der es warm ist, im Haus von netten älteren Leuten. Na ja, etwas älter sind sie als wir selbst. Daheim in Polen ist immer alles an mir gehangen. Ich bin es gewesen, die unsere Heirat eingefädelt hat. Ryszard glaubt, er wäre es gewesen. Ohne mich wären wir nie ein Paar geworden. Ich habe Ryszard in den Hintern getreten, damit er die Stelle als Lehrer in Wrocław annimmt. Und ich bin es gewesen, die für uns ein möbliertes Zimmer gefunden hat. Einer meiner Onkel hat einen Raum seiner Wohnung nicht gebraucht und ist bereit gewesen, ihn uns zu überlassen. Wir sind aber bei unserem Onkel nicht eingezogen. Die Politik ist uns zuvorgekommen. Im ganzen Land sind wegen der hoffnungslosen Wirtschaftslage chaotische, teils gewalttätige Proteste ausgebrochen. Plötzlich haben wir gehört, dass in Gdańsk eine unabhängige Gewerkschaft gegründet worden ist. Eine unabhängige Gewerkschaft in Polen! Unter der Diktatur des Proletariats eine unabhängige Gewerkschaft! Gewerkschaften hat es auch vorher gegeben. Eine in jedem größeren Betrieb. Die sind alle unter der Kuratel der alles beherrschenden Arbeiterpartei gestanden, die höllisch darauf geachtet hat, dass es zu keinen Querverbindungen zwischen diesen Betriebsgewerkschaften gekommen ist. Und jetzt, eine unabhängige Gewerkschaft für alle Arbeiter im ganzen Land, unterstützt vom Klerus und von unserem Papst Wojtyla in Rom! Die Solidarność. Lech Walęsa. Plötzlich hat es etwas gegeben, was uns Hoffnung gemacht hat, dass es doch noch zu einer Änderung der tristen Zustände im Land kommen könnte. Vielleicht würden wieder alle Arbeit haben, zu essen haben, alles reden dürfen, wieder Menschen werden. Ein Witz hat die Runde gemacht: Ein tschechischer und ein polnischer Hund begegnen einander an der Grenze in Jakuszyce. „Was willst du in der CSSR“, fragt der tschechische Hund. „Fressen“, antwortet der polnische Hund. „Und was willst du in Polen?“ Antwort des Tschechen: „Bellen!“ 

In ganz Polen haben die Menschen sich eingeschrieben in die Solidarność. Damit war eine landesweite Bewegung gegen das System geschaffen. Jaruzelski ist unter den Druck der UdSSR und deren Verbündeten geraten. Die Sowjets haben mit einem Einmarsch gedroht. Jaruzelski hat versucht das zu verhindern, indem er das Kriegsrecht ausgerufen hat. Wir haben befürchtet, die Russen würden trotzdem bald mit ihren Panzern in Polen stehen. Wir haben uns erinnert an den Prager Frühling. Damals hatten auch unsere polnischen Panzer dazu beigetragen, die Erhebung niederzuschlagen.  Angst hat sich breitgemacht. Wer bei der Solidarność war, hat keine guten Karten gehabt. Zigtausende haben sich entschlossen, Polen zu verlassen. Ryszard hat unter keinen Umständen bleiben wollen. Zu trist und hoffnungslos ist ihm die Zukunft erschienen. Zu verlockend sind ihm die Verhältnisse im Westen erschienen. Mir selbst ist der Entschluss nicht so leichtgefallen. Zwar habe auch ich keinerlei Chancen für mein Fortkommen in Wroclaw gesehen, aber da ist meine Familie gewesen. Von denen ist niemand in der Lage gewesen fortzugehen. Ein furchtbarer Zwiespalt hat sich mir aufgetan. Ryszard zu verlassen oder Schwester und Mutter. Eines so schrecklich wie das andere. Ich habe mich nicht entscheiden können. Schwester und Mutter haben für mich entschieden. Sie haben mir zugeredet, das Glück mit Ryszard im Ausland zu suchen.

Mit der Wohnung in Götzendorf haben wir richtig Glück gehabt. Das hat schon eine andere Qualität als ein Stockbett in einer Kaserne. Eigentlich lebe ich wie zuhause, putze, wasche, bügle, koche, gehe einkaufen. Dabei ist uns klar, dass das hier eine Übergangslösung ist, solange unsere Asylverfahren nicht abgeschlossen sind. Für die Zeit danach schmieden wir schon Pläne. Ryszard möchte in Wien Fremdenführer werden. Er stellt sich vor, die Stadt polnischen und russischen Gästen zu zeigen. Dazu muss man eine Prüfung machen. Unterlagen dazu hat er sich schon beschafft. Schade, dass die Aussichten in meinem Beruf nicht so gut stehen. Die Ausbildung zum Bauingenieur ist wenig kompatibel mit der in Österreich. Ich müsste hier von Neuem durch alle Prüfungen. Ein allzu langer und kostspieliger Weg. Spannend, wenn man nicht weiß, was werden wird.

*

Es ist eine Schnapsidee. Typisch Rainer. Das Haydn-Geburtshaus spukt immer noch in seinem Kopf herum. Jetzt will er unser Haus umbauen. Dem Gartenflügel will er einen Laubengang vorsetzen. Damit man von einem Zimmer zum anderen nicht durch den Regen muss, sagt er. Ich glaube aber, er will sich einfach den ‘Pappa’ Haydn nach Hause holen. Über ein paar Säulen sollen sich elliptische Bögen wölben, die Mauer darüber soll unter dem Dach enden, das dazu etwas vorgezogen werden muss. Das klingt ja alles noch ganz vernünftig. Aber es kommt noch toller: Er sagt, er hat jetzt eine Bauingenieurin im Haus und viele polnische Bauarbeiter ganz in der Nähe. Man stelle sich das vor: Er selber hat keine Ahnung vom Bauen und will Halina die Bauleitung übertragen. Halina, die in diesem Beruf noch keine Stunde gearbeitet hat. Das wird ihr Selbstwertgefühl steigern, sagt Rainer. Wo er das Vertrauen hernimmt, möchte ich wissen. Ryszard ist ganz Feuer und Flamme. Natürlich kann sie es, versichert er. Tags darauf ist er schon mit drei Polen aus der Kaserne da. Alles erstklassige Maurer, sagt er. Gar nicht teuer. Zwei sehen wirklich aus wie Bauarbeiter. Krzysztof und Roman, stellt Ryszard sie mir vor. Der dritte passt kaum dazu, Sławomir hätte ich eher für einen Studenten gehalten. Diese Bauverhandlung kann sich sehen lassen. Die vier polnischen Männer reden alle durcheinander, Rainer versteht gar nichts, Halina kommt auch nicht zu Wort. Sie scheint von der Truppe überfahren. Zwar meint sie, dass das Vorhaben machbar ist, aber sagt sie es nicht nur, um den Landsleuten und Ryszard nicht die Chance auf das Geld zu nehmen? Krzysztof, Roman und Sławomir würden am liebsten morgen Früh anfangen. Aber Halina macht ihnen klar, dass dazu noch ein paar Vorbereitungen nötig sind. Sie wird alles vermessen, einen Plan zeichnen und eine Materialaufstellung anfertigen. Die Sache hat ganz schnell eine Eigendynamik entwickelt. Sogar Rainer scheint nicht mehr ganz wohl zu sein dabei. Er erklärt Ryszard und Halina, dass man vorsichtig sein muss. Schwarzarbeit. Unangenehme Folgen für alle Teile. Die Nachbarn sind uns im Allgemeinen gewogen. Niemand hätte etwas gegen Pfusch, wenn er von Einheimischen ausgeführt wird. Aber weiß man, wie sie reagieren, wenn hier ein polnischer Arbeitstrupp auftritt? Flüchtlinge, die auch ohne Pfusch ganz gemischte Gefühle wecken? Als Rechtskundiger sollte Rainer wissen, dass er bei einem möglichen Unfall für alles Mögliche schwer haftet. Alle Bedenken sind vergebens. Das Projekt hat schon begonnen mit dem ersten Gedanken daran und ist nun nicht mehr zu stoppen.

Halina zeichnet hübsche Skizzen und – ohne professionelles Werkzeug einen maßstabgetreuen Plan. Ihre Materialberechnungen weisen unglaubliche Mengen an Ziegeln, Sand, Zement, Bauholz, Nägeln und riesige Faserplatten auf. Mir kommt vor, hier soll ein neues Schönbrunn entstehen, nicht nur ein paar Arkaden, in denen nichts drin ist! Die Polen klären unter sich die Frage der Werkzeuge. Einiges kann Rainer beistellen. Mehr als gedacht können die Polen organisieren. Wir fragen nicht, auf welche Weise. Später sehen wir das Emblem des Bundesheers auf manchem Gerät. Rainer lässt die ersten Materialfuhren an die Hinterseite des Grundstücks anliefern, weil dort weniger neugierige Augen lauern. Dann kommt der Tag der Wahrheit. Es kann losgehen.

Aus Sorge haben wir wenig geschlafen. Erst in den Morgenstunden nicken wir ein. Aber nicht lange. Die Morgensonne ist noch nicht aufgegangen, da hören wir von allen Seiten ums Haus mehr oder weniger verhaltene Laute, die alle etwas mit „Prscht“ zu tun haben. Halina hat ihre Truppe schon eingelassen und bereitet mit ihnen die ersten Arbeitsschritte vor. Ryszard schläft noch. Es ist gar nicht so einfach, Lehren für die Arkadenbögen herzustellen. Sławomir gelingt es nach vielfachen Versuchen mithilfe einer Schnur und einem Zimmermannsstift die gewünschte Ellipsenform auf die Faserplatten zu zeichnen. Nach Rainers Erinnerung entsprechen sie recht gut den Bögen von Rohrau und so werden die Formen ausgeschnitten. Währenddessen zimmern Krzysztof und Roman eine Holzkiste, in der sie den Mörtel anrühren werden. Wie in Polen. Keine Mischmaschine. Oder doch Mischmaschine, aber kein Strom. Dann gehen sie daran, an den von Halina bezeichneten Stellen Gruben auszuheben für die Fundamente der Mauersäulen. Für mich hat der Tag etwas Trauriges, denn Neuschwanstein fällt dem Projekt zum Opfer. Wie die Berserker hauen Krzysztof und Roman auf das Zauberschloss ein, fahren die Trümmer weg auf einen Schuttberg, der stetig anwächst. Die hohe Konifere dahinter wenigstens überlebt. Sie wird, bis auf Mannshöhe entastet, das natürliche Dach über dem neu entstehenden Atrium bilden. 

Das muss man den Polen lassen, die arbeiten, als müssten sie damit ein sinkendes Schiff retten. Da sieht man keine gemächliche Bewegung. Sogar das verstörende „Prscht!“ wiederholt sich in größter Eile. Halina bestimmt die kurzen Pausen, sie hat dafür Brote und Limo vorbereitet und für die Mittagspause ein einfaches, aber nahrhaftes Essen. Die Arbeiter essen und trinken, aber der erste, der damit fertig ist, steht schon wieder auf den Beinen, um die Arbeit fortzusetzen. Da wollen die anderen nicht nachstehen und folgen gleich, wenn auch sie den letzten Happen verputzt haben. Das Wetter ist günstig, der Tag ist lang. Selbstverständlich hilft auch Ryszard mit. Willig, aber etwas tollpatschig. So sind bereits am ersten Tag die Fundamente für die Säulen und für die Seitenwände der Verlängerung der Einfahrt fertig betoniert. Halina führt Buch über die Arbeitsstunden und verabreicht einen Nachtimbiss. Ryszard wäre ein feuchter Tagesabschluss recht, aber die Arbeiter sind zu müde dafür. Und morgen kommt wieder ein anstrengender Tag.

An manchen dieser Baustellentage bin ich mit meinen Auftraggebern in Wien und Umgebung unterwegs. Es beunruhigt mich nicht, die Arbeiter sich selbst zu überlassen. Halina führt ein zugleich liebenswürdiges und strenges Regiment. Meine Auftragslage, aufgeteilt in Heimübersetzungen und Begleitservice, ist bei steigender Tendenz jetzt so umfangreich, dass ich den schlecht bezahlten Job beim Außenhandelsinstitut aufgegeben habe. Mit den aufgeblasenen Funktionären, die sich bei vorwiegender Überflüssigkeit für bedeutende Diplomaten halten, muss ich mich nicht mehr ärgern. Nur mit Darma pflege ich weiterhin die Freundschaft. 

Der Umbau geht flott voran. Am zweiten Tag stehen die Säulen und die Wände der Einfahrt in Brusthöhe. Holzgerüste müssen angefertigt werden für die höherliegenden Bauteile. Roman ist der Maurerspezialist. Später beim Mauern über die elliptischen Faserplattenlehren herum kommt auch er ins Trudeln. „Prscht“ ist jetzt wieder sehr häufig zu hören. Schließlich gelingen die Bögen. Erstaunlicherweise stürzen sie beim Entfernen der Lehren nicht ein und auch nicht nachdem das Dach umgebaut ist und ein Teil seines Gewichts auf den Bögen lastet. Heute freue ich mich über den wetterfesten Laubengang. Denke ich aber an Roman auf dem Gerüst, will mich das mulmige Gefühl nicht ganz verlassen, dass wir eines Tages vor den Ruinen von Karthago stehen werden.

*

Jetzt endlich kommt Ryszard zu seinem feuchten Fest. Wir feiern alle gemeinsam so etwas wie Dachgleiche. Und Sławomirs Anerkennung des Asyls. Er wird nach Kanada gehen. Wir sitzen gut gelaunt rund um den Gartengriller, teils im Schatten unter den neuen Arkaden, teils neben der Konifere in der Sonne, essen gebratene Wurst und Schweinebauch und trinken viel Bier, dann Wein und nach polnischer Art auch Wodka. Unter lautem Gelächter besprechen wir in unserem polnisch-deutsch-englischen Kauderwelsch die witzigsten Szenen aus dem Live-Slapstick-Bau. Es gibt keinen in der Runde, der nicht Protagonist einer solchen Szene geworden wäre. Mit fortschreitender Wirkung des Alkohols wird es ruhiger in der Runde. Zufriedenheit breitet sich aus. Sławomir schaut einer vielversprechenden Zukunft entgegen. Halina hat eine fordernde Bewährungsprobe bravourös gemeistert. Krzysztof hat den öden Alltag in der Kaserne für ein paar erfüllende Wochen unterbrochen. Auch für Ryszard hat es viel Abwechslung gegeben. Für ihn, obgleich nicht in der Kaserne, hatten die Tage in Götzendorf vor dem Bauprojekt begonnen eintönig zu werden. Nur selten hatte jemand, nicht einmal Halina, nachts mit ihm trinken wollen. Krzysztof, Roman und Sławomir waren endlich zu etwas Geld gekommen, und zwar mit der Hände Arbeit und nicht aus staatlichen Almosen. Ich wollte ihre Lage nicht ausnützen, habe ihnen das gleiche gegeben, was auch ein österreichischer Hilfsarbeiter bekommen hätte. Trotzdem ist der Umbau im Pfusch natürlich weit billiger gekommen als von einer Baufirma ausgeführt. Halina und Ryszard weigern sich standhaft, auch nur einen Schilling anzunehmen. Niemand hat sich verletzt, keiner hat uns angezeigt, alles ist in Butter. Wie Sepperls Geburtshaus in Rohrau schaut der Laubengang zwar nicht aus. Dort sind die Säulen dick, bauchig, rustikal, weiß getüncht, tragen - wenn auch schlichte - Kapitelle. Diese hier sind viel zarter, schmucklos, aber elegant, beigegelb angestrichen. Sie erinnern viel mehr an die Toskana als an Rohrau. So bin auch ich ganz zufrieden mit dem Werk. Und Annamaria? Mein Blick schweift hinüber zu ihr, trifft aber nicht auf den ihren. Roman sitzt neben ihr, viel näher als es mir angemessen scheint. Er schlingt seinen Arm um ihre Schulter, was sie lächelnd geschehen lässt, er versucht sich ihren Lippen zu nähern, was sie abwehrt, aber lachend. Für meinen Geschmack könnte ihre Reaktion entschlossener ausgefallen sein. Dann vielleicht wäre Roman wenig später nicht doch noch zum erfolgreichen Raub eines kurzen Kusses gekommen. Halina lässt eine Schimpfkanonade mit viel „Prscht“ auf Roman los. Der setzt sich darauf wieder ordentlich hin, hebt sein Glas und stößt mit Annamaria an. Böse ist sie nicht auf ihn. 

Wie ich diese Episode einordnen soll, ist mir bis heute nicht klar. Denn sie fällt in eine Zeit, in der, jedenfalls meinem persönlichen Erleben zufolge, bei uns noch alles Wonne und Waschtrog war. Ich verglich den Vorfall, der ein solcher für mich war, aber bestimmt nicht für Annamaria, mit meinem Kuss mit Francesca. An diesem hatte vielleicht mein Fieber seinen Anteil gehabt, an jenem wohl der Alkohol. Annamaria vertrug nicht viel. Sie wurde rasch beschwipst und geriet außer Kontrolle. Wie auch immer, wir waren jetzt gute zehn Jahre verheiratet. Etwas vom Lack der jungen Liebe war wohl abgekratzt. Äußerlich gingen wir miteinander immer noch um wie Frischverliebte. Wir nannten einander mit unseren diversen Kosenamen, Pazzerl (von pazzo) oder Affi (nach dem Ort im Etschtal), gingen überall ungeniert Hand in Hand. Im geschützten Bereich hingegen gab es hin und wieder auch ein lautes Wort, letztlich wegen Nichtigkeiten. Im Gefäß des gegenseitigen Verlangens war schon eine beträchtliche Menge an Platz frei und gelegentlich schwappte hie und da ein Tropfen von außen herein. Eines Tages, es war ein Freitag, brachte ich aus einer Tierhandlung, wo ich sie zufällig gesehen hatte, zwei Pfirsichköpfchen nach Hause. Dass ich mich damit in eine Reihe mit den Gefährdern der Art stellte, war mir nicht bewusst. Vom World Wildlife Fund war noch nicht viel die Rede. Ich bastelte einen großen Käfig aus engem Maschendraht. Einen einfachen Quader ohne Türchen. Zum Füttern und Säubern musste man den ganzen Kobel von der Grundplatte herunterheben. Zwischen die Maschen des Geflechts steckte ich Sprießel zum Hinsetzen und band ein Rehbockgeweih in eine Ecke als Ersatz für Baumgeäst. Der Käfig stand in der warmen Jahreszeit draußen unter den Arkaden. Wir waren verliebt in dieses grüne Vogelpärchen mit den orangenen Köpfchen, den großen, weiß umrandeten Augen und den roten Schnäbeln. Es hieß, so ein Pärchen bleibe auf Lebenszeit zusammen. Wir gaben ihnen die Namen Freitag und Venerdì, oder aber auch Nini und Nana, so wie wir einander auch. Sie hatten einander lieb und schnäbelten und im nächsten Moment jagten sie einander wütend durch den Käfig. So wie wir. Solange es Licht war, sangen sie sehr laut. Birtsch, birtsch! 

Onkel Alfonso baute für Nini und Nana einen schönen Käfig mit Holzrahmen und Türchen und herausziehbarem Boden. Das Oberteil konnte man auch öffnen. Jetzt musste man keine Angst mehr haben, jemand könnte die Flucht ergreifen beim Abheben des Käfigs vom Boden. Manchmal kam die Nachbarskatze und setzte sich oben auf den Käfig. Nini und Nana flatterten im Käfig umher, schienen die Katze zu attackieren und schrien so laut Birtsch, dass die Katze es vorzog abzuziehen.

21.3.1981

Beim Käfig putzen geflüchtet: Freitag auf dem Nussbaum, auf dem Zwetschkenbaum, auf der Tanne, auf dem Apfelbaum, auf dem Dach, auf der Konifere. Freitag gejagt von einem Spatzen. Nachts Freitag frierend auf der Konifere.

 

22.3.1981

Mit dem ersten Tageslicht aufgestanden, also mit den Vögeln. Venerdì im Käfig ruft Freitag auf der Konifere. Wenig später klettert Freitag wieder in sein Haus. Erleichterung!

Nana legte Eier in eine Kokosnussschale, aber es sind nie Junge geschlüpft. Nini und Nana waren lange unsere Adoptivkinder. Nach so langer Ehe hätten wir längst eigene haben sollen. Es hat aber nie die geringsten Anzeichen dafür gegeben. Annamaria hat nicht oft darüber gesprochen, ich weiß aber, sie hätte gern Kinder gehabt. Ich selbst war in diesem Punkt fatalistisch eingestellt. Die Natur weiß am besten, wer Kinder haben soll und wer nicht, dachte ich. Daher haben wir nie Versuche unternommen, an dieser Schraube zu drehen. Annamaria hat sich zwar von ihrem Gynäkologen bestätigen lassen, dass es nicht an ihr läge. Andererseits hat sie nie von mir verlangt, ich sollte meine Anlagen prüfen lassen. Heute glaube ich, es war auch ihr so recht wie es war. Wäre ein Kind gekommen, sie hätte zweifellos ihre berufliche Tätigkeit, die sie sehr erfüllte, sofort ganz aufgegeben. So ließen wir unsere elterlichen Neigungen an Nina und Nana aus. Und an Iris.

Eines Morgens fanden wir im Gras neben der Konifere ein junges Vöglein. Es konnte noch nicht fliegen. Eine Schwalbe flog verzweifelt sirrend um den Baum. Wir hatten eine neue Asylwerberin. Verfolgt war sie ja, das stand fest. Ihr kleines Leben war bedroht von einer Vielzahl von Fressfeinden. Wir entschuldigten uns bei der Mutter und nahmen ihr Kleines ins Haus. Von da an war unsere Hauptbeschäftigung Fliegen fangen. Für Iris. Anfangs fraß sie ein paar Fliegen alle vierzig Minuten und bekam einige Tropfen Wasser aus einer Pipette. Wir waren sehr froh über ihren Appetit. Iris wurde rasch kräftiger und begann, kleinere Flugstrecken im Haus zu bewältigen. Ihre anfängliche Ungeschicklichkeit machte uns mehr besorgt als belustigt. Unsere Küche war offen und wir mussten sehr aufpassen, damit sie nicht zu nahe an Heißes geriet und ihre Hinterlassenschaften nicht in die Suppe. Mit der Zeit stellte sich als Iris‘ Lieblingsplatz Annamarias Schulter heraus. Von da aus konnte sie wunderbar mit Annamarias Wange und Nase schmusen. Beide taten es oft und mit Wonne. Allzu bald war Iris zu einer eleganten Schwalbe geworden mit weißer Brust und stahlblauem Frack. Schweren Herzens beschlossen wir, ihr die Freiheit zurückzugeben. Wir ließen die Tür offenstehen. Iris setzte sich auf den Türflügel und beäugte neugierig die unbekannte Welt. Endlich entschloss sie sich zu einem kurzen Flug hinüber zur Konifere. Ich umarmte Annamaria, die sich ihrer Tränen nicht erwehren konnte. Als ich wieder zur Konifere schaute, war Iris verschwunden. Es war ein lauer Frühsommertag, Sonnenschein wechselte mit Wolken. Unsere Augen folgten den Schwalben, die in mittlerer Höhe sirrend durch die Lüfte kurvten, einander jagend als spielten sie Fangen. Gerne hätten wir unter ihnen Iris ausgemacht, doch das war unmöglich. So waren sie alle für uns Iris. Ich hatte gerade etwas in der Werkstatt geordnet und kam zurück in den Garten. Annamaria saß auf einem Klappsessel. Neben ihr im Gras lag ein Buch, das sie in diesem Augenblick nicht interessierte. Ihr Gesicht war zur Seite geneigt. Sie schmuste – mit Iris.

Um Nini und Nana machte sie einen Bogen. Die waren ihr nicht geheuer. Auch die beiden Zwergpapageien kümmerten sich nicht um Iris. Mit ihren Flugkünsten hätten sie sich ihr ohnedies nicht nähern können. Eines Tages war es Nini irgendwie gelungen, aus dem Käfig zu gelangen. Es muss ihm gelungen sein, mit seinem Schnabel den Haken am Türchen zu verdrehen. Er saß jetzt auf der Konifere und forderte Nana auf, ihm zu folgen. Das gelang ihr aber nicht. Sie flatterte im Käfig umher und schrie verzweifelt. Birtsch! Birtsch! Ich hatte keine Ahnung, wie wir Nini einfangen könnten. Da er öfters zum Käfig flog und sich oben draufsetzte, riskierte ich es, das Oberteil des Käfigs zu öffnen. Und siehe da, Nana flog nicht heraus, rief nur „Birtsch! Birtsch!“ und Nini kehrte freiwillig in die Voliere zurück. Nun ließen wir, solange wir in der Nähe waren, das Käfigoberteil offen. Nini und Nana konnten so viele Ausflüge in die nähere Umgebung machen. Wir waren in Sorge, weil die heimischen Vögel, die ungleich behänder fliegen konnten, diesen bunten Immigranten nicht nur Neugier zeigten, sondern mitunter auch Aggression. Dann flüchteten Nini und Nana in den sicheren Käfig. Und auch abends kehrten sie immer zuverlässig zurück in ihre Burg.

Iris betrachtete uns als ihre Familie. Sie verbrachte die Tage im Freien, kehrte aber zwischendurch und in der Abenddämmerung immer wieder nach Hause zurück. Sie stieg mit uns sogar ins Auto ein. Einmal machten wir einen Tagesausflug nach Mailberg, um bei den Malteser Rittern Wein einzukaufen. Iris war dabei. Im Wagen saß sie auf Annamarias Schulter und schlief oder schmuste. Wir machten Rast in einem Gasthaus. Iris kam natürlich mit. Sie war schon lange sauber in den Räumen. Ich fragte, ob die Fliegen hier gratis wären. Der Wirt bot uns freie Zeche, wenn wir täglich wiederkämen. Während ich In Mailberg den Wein kaufte, zog Iris ein paar Runden, um die Mailberger Fliegen zu kosten. Verlässlich kam sie wieder, um mit uns zur Rückfahrt einzusteigen. Das ging so den ganzen Sommer. Iris blieb nun ganze Tage lang weg, manchmal auch zwei oder drei. Vielleicht trainierte sie mit den anderen Schwalben für den Zug in den Süden. Schon sammelten sich die Scharen in langen Reihen auf den Stromleitungen. Um Mariä Geburt blieben die Leitungen von einem Tag auf den anderen leer. Wir wünschten Iris eine glückliche Reise. Ob wir sie das Jahr darauf wiedersehen würden? 

Am Abend dieses Tages saßen wir beim Essen, da sauste Iris zur offenen Tür herein und ließ sich auf Annamarias Schulter nieder. Sie war nicht abgereist. Schon stellten wir uns darauf ein, dass sie bei uns überwintern würde. Es hatte ganz den Anschein, denn sie schloss sich auch nicht einer der Gruppen an, die auf ihrer Reise durchs Land zogen. Das würde für Iris heißen monatelanges Ausgehverbot, und für uns Futtersorgen. Die Sommerhitze dauerte in diesem Jahr bis Ende September. Dann brach sie in einem schweren Unwetter mit Sturm und Starkregen zusammen. Seither haben wir Iris nicht mehr gesehen. Es ging aber noch viele Sommer so, dass wir sehnsüchtig den Schwalben nachblickten, wenn sie beim Fangenspiel sirrten.


 Unsere Reise zu Annamarias Verwandten in diesem Sommer machten wir zu viert. Halina und Ryszard waren ganz Feuer und Flamme, weil sie unverhofft zu einem Urlaub in Italien kamen. Etwas sehr Exotisches für polnische Asylanten, weit außerhalb jeder Reichweite. Die übliche Runde, Bozen, Lonigo, Bergamo, dehnten wir diesmal noch aus, um weitere Onkel und Tanten Annamarias in Vicenza und Udine zu besuchen. Die Tage waren heiß und sehr italienisch. Wir retteten uns von einem Campari Soda zum nächsten und von einem Gelato zum nächsten. Wir waren guter Laune. Die meiste Zeit scherzten wir ausgelassen wie Halbwüchsige. Annamaria ging das zu weit. Was war das doch für ein Kindergarten, der da ihre Heimat unsicher machte! Den Onkel in Udine hatte sie noch nie besucht. Er wohnte in einer, wie Annamaria dachte, feinen Gegend nördlich des großen Krankenhauses. Es war eine Zone mit modernen, dreistöckigen Palazzi, in einem davon lag des Onkels Wohnung. Er war aber nicht zuhause. Annamaria hatte nur angekündigt, dass wir vorbeikommen würden, aber nicht genau, wann. Es war später Vormittag, wahrscheinlich ein Sonntag, weil es unglaublich ruhig war in den Straßen. Als auf unser Klingeln niemand antwortete, beschlossen wir, etwas zu warten. Vielleicht kam der Onkel ja bald zurück. Während wir warteten, schlug unsere kindische Ader wieder durch. Wir führten uns auf wie pubertäre Oberschüler. Wir, also Ryszard, Halina und ich. Lautes Lachen schallte durch die vornehme Stille der Wohnstraße. Aufgereizt ermahnte Annamaria uns zur Ruhe. Etwas erschrocken über die unerwartete Zurechtweisung setzte ich mich auf eine niedrige Begrenzungsmauer. Auch Halina und Ryszard waren sogleich ruhig. Die Stille dauerte vielleicht eine Minute. Dann rutschte von einem meiner Füße die Kunststoffsandale zu Boden. Klatsch! Das Geräusch, mit dem die Sohle breitflächig auf dem Asphaltboden aufschlug, war keineswegs besonders laut und sicherlich für keinen Anrainer störend. In der herrschenden Stille war es allerdings ein deutliches Klatsch. Es genügte, um Annamarias angespanntes Nervengewebe zu zerreißen. Wütend wandte sie sich ab, holte ihre Handtasche aus dem Wagen und begann zu Fuß die Straße hinunterzugehen. Wir schauten einander an und Annamaria nach, ob sie nicht Anstalten machte umzukehren. Nein, sie setzte ihren Weg mit entschieden raschem Schritt fort. Wir waren perplex. Es behagte mir nicht, in Anbetracht Annamarias so unerwarteten und unbegründeten Verhaltens ihr sogleich nachzueilen. Da war sie auch schon verschwunden. Wir setzten uns nun doch ins Auto und fuhren in Annamarias Richtung. Kurz darauf holten wir sie ein. Neben ihr herfahrend bat ich sie durchs offene Fenster doch wieder einzusteigen. Mit dem Zischen einer Viper gab sie zu verstehen, dass sie mit der Bahn heimfahren wollte. Es war Halina, die Annamaria zur Vernunft brachte. Noch ganz weiß vor Zorn stieg sie zu uns in den Wagen. Auf der Rückfahrt nach Hause war niemand mehr fröhlich.

*

Wenn Halina und Ryszard nicht mehr als einige Monate bei uns blieben, so war Mama daran schuld. Immer zahlreicher wurden die Leute, die gar nicht zufrieden waren mit der Anwesenheit der Flüchtlinge und so gesehen ihr Herz auf dem rechten Fleck trugen. Mamas befand sich auf dem linken. Für sie war es ganz selbstverständlich, dass man diesen Menschen in ihrer Not helfen sollte. Halinas und Ryszards Asylansuchen waren positiv erledigt. Somit konnten sie sich auf Arbeitssuche machen. Das schien natürlich in Wien aussichtsreicher als bei uns auf dem Land. Als erstes musste also eine Wohnung her in Wien. Es war unglaublich, was für Löcher man den Polen für teures Geld zumutete. Halbwegs bewohnbare Räume wurden an Ausländer äußerst ungern vermietet. Man befürchtete, die würden die Miete nicht zahlen, alles ruinieren und auch nicht lange bleiben. Mama fand für unsere beiden eine einfache Altbauwohnung, Zimmer, Küche, Nähe Nordbahnhof. Dem Hausherrn spielte sie vor, sie wäre Halinas Tante – schon wieder eine Rolle – und bürgte für die Miete. Sie leistete die geforderte Kaution, half bei der Beschaffung alter Möbel. Halina und Ryszard akzeptierten das nur unter der Versicherung, sie würden Mama das Geborgte eines Tages zurückzahlen. Mama half auch bei den Formalitäten um die Notstandshilfe und einen Mietzinszuschuss. An Hausrat gab es genügend Sachen in unseren Haushalten, die nicht mehr benötigt wurden und so konnten die beiden auf relativ zivilisierte Weise in Wien starten. Halina entschloss sich, eine Ausbildung zur Krankenschwester zu machen. Da sie neben der Schule schon im Krankenhaus helfen durfte, war von Anfang an ein kleines Einkommen vorhanden. Ryszard hatte es viel schwieriger. Das mit dem Fremde Führen wollte nicht klappen. Er begann dieses und jenes, nichts aber war von Dauer. Mit Halina hatte er richtig Glück. Sie ging neben Schule und Krankenhaus putzen, zu Mama und einer ihrer Bekannten. So kamen Halina und Ryszard ganz passabel über die Runden.

12.12.1981

Die Quarantäne ist eine schreckliche Erfahrung für Halina. Das hässliche heruntergekommene Kasernengebäude, die überfüllten Massensäle mit den militärischen Stockbetten, kein Unterschied mehr zwischen Wohnen und Schlafen, das lieblos auf den Teller geklatschte Fressen einnehmen auf besudeltem Tisch, überall verzweifelte, ungepflegte Menschen, die haarsträubend unhygienischen Zustände, vor allem aber das Eingesperrt sein, das Nichthinauskönnen und die Ungewissheit, wie lange das dauern wird. Manche bleiben keine zwei Tage, Andere sind seit Wochen hier, keine Möglichkeit sich zu informieren, an seine vergessene Existenz zu erinnern.

Ryszard ist es ein paarmal gelungen, am Torposten vorbei mit Halina zu sprechen. Bitte Ryszard, tu was, hol mich hier raus, hat sie ihn angefleht. Ryszard interveniert in der Lagerkanzlei. Er hat die Wartenummer 387 gezogen. Kein Platz für Individuelle Anliegen. Zu groß ist der Flüchtlingsstrom.

Tags darauf fahre ich mit Ryszard nach Traiskirchen. Wir fahren zeitig, vielleicht ist die Warteschlange dann kürzer. Um acht sind wir vor dem Tor.

Vor der Kanzlei die endlose Menschenschlange. Wir ziehen die Wartenummer 215, wechseln uns stündlich ab beim Anstehen. Gegen Mittag sind wir an der Reihe. Die männlichen und weiblichen Beamten sind im Grunde gutwillig, doch überfordert und deshalb gereizt. Bevor irgendetwas unternommen wird, muss ich ein Dokument hinterlegen. Ich gebe meinen Führerschein. Der Torposten wird ihn mir ausfolgen, wenn ich das Lager verlasse. Man sucht Halinas Akt, gibt Anweisung ans Hotel Hilton (so nennt der Galgenhumor der Flüchtlinge die Quarantänestation), Halina auszuquartieren. Alles scheint zu klappen wie am Schnürchen, bis man mir eine Erklärung zur Unterschrift vorlegt, wonach ich persönlich in die Verpflichtung des Staates zur Betreuung Halinas eintrete und für alle anfallenden Kosten aufkommen werde. Bei allem guten Willen, das geht zu weit! Wenn ich Halina Kost und Quartier anbiete und dem Staat damit eine Sorge abnehme, weshalb sollte ich dafür noch bestraft werden, indem ich eventuell für Halinas Krankenbehandlung aufkommen müsste? Der Beamte nimmt meine Bedenken unwirsch auf. Er denkt, mir gehe es um eine finanzielle Abgeltung für Halinas Aufenthalt bei mir. Das ist peinlich und erniedrigend. Also müsse Halina doch im Lager bleiben. Eine andere Möglichkeit gebe es nicht. Was für ein haarsträubender Unsinn! Ein Lagerplatz könnte frei werden. Sicher, ein Tropfen auf den heißen Stein, aber sicherlich kein Einzelfall. In diesem Tohuwabohu hier berühren einander das Chaos, das Bemühen des Amtsschimmels um Ordnung und, da es sich um eine internationale und hochpolitische Sache handelt, der Argwohn im staatspolizeilichen Auge. Sinnhaftigkeit und Logik haben hier ausgespielt.

Immerhin muss Halina, inzwischen aus dem Hilton ausquartiert, nicht in die Quarantäne zurück. Telefonisch die Anweisung ans allgemeine Lager, einen Platz für sie vorzusehen. Ryszard und ich begleiten Halina in den zugewiesenen Block. Uns bietet sich ein Bild des Entsetzens. Muffiger Gestank auf dem kasernenblockartigen Gang. An der Wandseite steht, eins neben dem anderen, eine endlose Reihe von Stockbetten. Auf und in ihnen kauern lesende, schlafende, rauchende, leeren Blicks in die Luft starrende, schreibende, schnarchende, essende, einander die Haare schneidende, trinkende, diskutierende, sich rasierende, streitende, hustende, weinende männliche und weibliche Kreaturen. Man scheint sich für geschlossene Fenster entschieden zu haben. Dreck und Gestank sind weniger schlimm als die feuchte Kälte, die ohnedies durch die einfachen undichten und beschlagenen Fenster hereinkriecht. Manche haben sich durch Aufspannen von Bettdecken kleine Kojen aus zwei oder drei Stockbetten gebaut, die elitären Ein- und Zweifamilienhausbesitzer unter den Elenden. Zwischen diesen trennenden Decken und dem lungernden Papa springen einige verschieden große Kinder umher. Fremde Laute schreiend spielen sie Fangen. Kofferradios dröhnen unverständliche Nachrichten in verschiedenen Sprachen. Im Vorbeigehen sehen wir durch offene Türen, dass es in den großen Kasernensälen nicht besser zugeht. An einem Tisch wirft ein einsilbiger Magazineur Halina zwei Decken und eine Blechmenage hin. Sie soll sich auf dem Gang ein leeres Bett suchen.

Über Gepäckstücke, auf den Boden gefallene Handtücher, spielende Kinder und Erbrochenes hinweg steigen wir den Gang zurück. An einem Fenster halte ich an. Mein Entschluss steht fest. Halina bleibt nicht hier. Wir beraten, wie wir Halina durch das Haupttor am Schlagbaum vorbei aus dem Lager bringen können. Schließlich gehen wir frech auf das Tor zu, auf das Durcheinander von Dutzenden Leuten, die hinaus- oder hineinwollen. Ich voran, eng dahinter Ryszard und ebenso eng hinter ihm Halina. Während ich die Verhandlung mit dem Torposten über meinen Führerschein etwas intensiviere, passieren hinter mir Ryszard und Halina zur Straße hinaus. Froh und erleichtert fahren wir Götzendorfu.[HH1] [RR2] 

  ist wohl polnisch oder so [HH1]

exakt [RR2]

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