36 Das Quartett

Das Quartett

worin vorkommen: der Balkan, Griechenland, Spanien, Götzendorf, Lago d'Iseo, Malcesine, der Gardasee, Bozen, Locara, sowie  ein verrücktgewordener Bergrallyraser

Tagebuch 2.3.1980


Beim Erwachen noch gut gelaunt. Noch im Bett die „Holde Kunst“ gehört, beim Waschen und Frühstück den „Gugelhupf“. Da ruft meine Mutter an und beklagt sich, dass wir bei ihrem gestrigen Besuch kein Gespräch hatten. Wozu Worte, frage ich, wir wissen doch alles. Sie spürt die Kommunikation ohne Worte nicht und doch sind Worte ihr zu wenig, gleich wie mir. Kein Trost in der Materie, weil er dort nicht zu finden ist, kein Trost im Geist, weil sie für ihn nicht empfänglich ist. Schwere unüberwindliche Einsamkeit!


Mama sucht unablässig den Kontakt mit mir. Ich bin damit nicht so glücklich. Was immer sie tut und sagt, alles ist so durchsichtig. Sie tut alles, mit dem einzigen Ziel, mich zu umschlingen. Boa Constrictor. Umschlingen und erdrücken. Ihr Berührungsbedarf geht über Mutterliebe weit hinaus. Seelisch oder in Gedanken verbunden zu sein, das wäre ihr viel zu wenig. Dasselbe gilt für sie im Hinblick auf Tino. Auch er ist ständig darauf bedacht, allzu engen Umschlingungsversuchen zu entkommen. Mamma hingegen, sie ist die Einzige, die die Berührungsmanie ihrer Tochter genießt. Seelisch oder in Gedanken verbunden zu sein, das ist ihr fremd. Mama ist wie Mamma, Erde pur. Ihre Sorgen konzentrieren sich immer um rein Materielles. Auf bescheidenem Niveau. Auf Überlebensniveau. Wenn auch die Nachkriegszeit mit der ärgsten Not längst überstanden ist, die Notwendigkeit, Tino und Mamma zu versorgen, ist geblieben. Mamma zu versorgen, ihre einfachen, erdnahen Ansprüche, und Tino, die Reiselust des alternden, kränkelnden Mannes. Er hat längst aufgehört zu komponieren oder sich wenigstens mit Hilfsarbeiten auf diesem Gebiet zu beschäftigen. Dafür ist in ihm die Reiselust wieder erwacht. Nach seinen Plänen unternimmt das seltsame Quartett weite Autoreisen durch halb Europa. Quartett, weil immer auch Rigo, der Boxer dabei ist, später Lampo, der Irish Setter, was Mamas Aufgabe nicht gerade erleichtert. Von den Vieren ist sie die Einzige, die Auto fahren kann. Damit lastet der Kraftakt der Tausenden Straßenkilometer auf ihr ganz allein. Durch den Balkan hinunter nach Griechenland muss sie dafür sorgen, dass immer frische Milch vorhanden ist. Tino glaubt, dass sie gegen seine Zwölffingerdarmreizung hilft. Sie muss den Schrecken überwinden, als sie im Hinterzimmer eines griechischen Pandocheio nächtigen und, nachdem sie ihre Kleider schon abgelegt hat, plötzlich ein vollbärtiger Mann durch die Oberlichte über der Tür auf ihre Intimitäten glotzt. Tino ist davon überzeugt, sie habe sich das nur eingebildet. Wer würde denn sowas machen? Auf der Schotterstraße über einen entlegenen griechischen Bergpass gibt das Zündschloss seinen Geist auf. Nach mehreren Stunden kommt ein Vehikel mit einem xenophilen Bauern vorbei, der das Zündschloss ausbaut. Den ganzen Rückweg durch den Balkan werden nur noch blanke Drähte die Elektrik in Betrieb halten. In Spanien muss Mama, weil Tinos Blasenentleerung versagt, eine Apotheke finden und ihm einen Katheter setzen. Aus Erschöpfung im erstbesten, wenn auch teuren Hotel eingecheckt, muss sie Rigo an der Rezeption vorbeischmuggeln, weil hier Hunde nicht erlaubt sind. In einem für wenige Tage reservierten Quartier sind sie ganz allein. Weit entfernt von jeglicher Ansiedlung liegt es an einem Wäldchen nahe am Meer. Tino findet es wunderbar. Nachts hört Mama einen Wagen anhalten. Schritte nähern sich dem Haus. Verhaltene Männerstimmen. Eine Taschenlampe leuchtet durchs Fenster. Das ist Rigos Augenblick. Mit seiner tiefsten Stimme beginnt er wie eine Furie zu bellen. Die Männer hauen ab. Tino meint, da hat sich jemand verlaufen. Trotzdem ist der Aufenthalt dort kürzer ausgefallen als geplant.

Solche Abenteuer zu meistern, das zehrte an Mamas Kräften. Zurück in Wien konnte die Fürsorge für das Quartett nicht einfach aufhören. Die Straßenkilometer wurden durch ihre Jobs ersetzt. Tiefe Liebe erfuhr sie von Mamma. Mutterliebe. Wobei Mamma schon sehr genau darauf achten konnte, dass es ihr im Rahmen der beschränkten Möglichkeiten an nichts fehlte. Mamas Liebe zu ihrer Mutter war groß genug, darauf immer zu achten. Tino blieb Mamas große Liebe. Das gaukelte ihre erdige Seele ihr so vor. Bis zum Schluss waren ich, Tino, Mamma und der Hund (in dieser Reihenfolge) fast alles, was sie besaß. Sie liebte Mamma bis zu deren Tod, Tino weit über sein Ende hinaus. Bis zu ihrem eigenen Ende litt sie darunter, ihn danach nicht mehr besitzen zu können. Anfangs, am Theater hatte sie ihn sich geschnappt, sie, die blutjunge Anfängerin, hatte den Chef, diesen autoritären, attraktiven Mann in den besten Jahren allen erfahrenen Konkurrentinnen weggeschnappt, hatte danach ihre Beute verteidigt gegen alles, was gefährlich werden hätte können. Tino hatte Mama auch lieb, aber bestimmt hat schon sie, wen er zu lieben hatte. Die ganze Beziehung war nach Tinos Gastspiel bei der Wehrmacht rein platonisch. Mama sagte einmal, die Winternacht, in der ich gezeugt wurde auf der sächsischen Parkbank im Schnee, sei eines der wenigen und ihr letztes wirklich intimes Zusammensein mit Tino gewesen. Seither versuchte sie, auch mich zu besitzen. Ich aber wollte mich nicht besitzen lassen. Von niemandem. Nicht als kleiner Bub, als mir jedes kitschige Foto mit ihr, ja jedes Bussi von ihr zur Herausforderung geriet. Wenn sie etwas Speichel von ihr auf den Finger oder aufs Taschentuch nahm, um mir eine Verunreinigung aus dem Gesicht zu wischen, hätte ich ausflippen können.

Dieses Gefühl, nicht besessen werden zu wollen, setzte sich die längste Zeit fort, also auch in den Götzendorfer Zeiten. Mama, Tino und Mamma hatten uns schon im Schrebergarten auf dem Laaerberg öfters besucht. Jetzt eben auch in Götzendorf. Das Quartett erschien meistens am Wochenende oder an Feiertagen, natürlich, da war ja auch ich zuhause. Anders hätte ein Besuch für Mama keinen Sinn gehabt. Sie kamen immer sehr zeitig in der Früh. Sie parkte vor unserem Schlafzimmerfenster, also nicht weiter als vier Meter von unserem Bett entfernt. Die Autotüren knallten. Annamaria und ich hörten hellwach Mamas Befehle an Lampo, nur ja keinen Lärm zu machen, und wie Tino und Mamma und die zahlreichen mitgebrachten Sachen ins Haus befördert wurden. Dann die Geräusche aus der Küche, das Frühstück wurde zubereitet. Der Hund sprang umher und bellte. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Frostige Stimmung den ganzen Tag. Wir baten sie, nicht so zeitig zu kommen. Es half nichts. Zu den frühmorgendlichen Störgeräuschen kam nun noch Mamas unüberhörbares lautes Zischen, ihre Aufforderung an die anderen, leise zu sein. Wollte sie uns pflanzen?

Mama versuchte, über Annamaria näher an mich heranzukommen. Annamarias Freundschaftsangebote scheiterten an Mamas umschlingender Manie. Annamaria hat den Braten bald gerochen und verhielt sich noch abweisender. Mit südländischer Impulsivität ließ Annamaria sich zu mancher wenig freundlichen Äußerung hinreißen. Außer einem kurz aufkochenden Ärger hatte das nichts zu bedeuten. Ohne zu zögern hätte Annamaria auch schwere Belastungen ganz selbstverständlich auf sich genommen, wenn ich oder jemand vom Quartett das nötig gemacht hätte. Ihre schwer kranke Mutter hat Annamaria für die letzten Wochen ihres Lebens nach Götzendorf geholt und aufopfernd gepflegt, während ich Fußball oder Tennis spielen ging oder, Radiolautsprecher an den Ohren (Ö1), Gartenarbeit machte. Mir selbst fehlte die karitative Ader. Schon als Annamarias Vater etliche Jahre zuvor ebenfalls schon sehr schwer von einer Krebserkrankung gezeichnet war, hat sich das bemerkbar gemacht. Zuerst verbrachte er lange Zeit in Krankenhäusern, am Lago d'Iseo und in Malcesinee am Gardasee. Von Bozen aus fuhren wir nach Malcesine, um Annamarias Vater zu besuchen. Das Spital lag direkt am Ufer in einem schönen Park. Im Krankensaal mit 15 Betten war es fürchterlich. Es stank. Ich schaute durchs Fenster auf die wunderschöne Landschaft. Der Besuch dauerte mehrere Stunden. Auf der Rückfahrt schlug in mir Tinos Reiseneugier durch. Ich fuhr nicht den raschen Weg auf der Autobahn, sondern über die Berge auf engen, gewundenen und endlosen Bergstraßen. Meine Schwiegermutter glaubte, ich sei verrückt geworden. Wieso bringt er uns in solche gottverlassenen Gegenden? In so schweren Stunden? Wir hielten an einer kleinen Osteria. Ich bestellte Kalterer und Speck. Ich aß allein. Bald meinte man, für meinen Schwiegervater in der Klinik nichts mehr tun zu können und schickte ihn nach Hause, wo er noch mehrere Wochen unter schweren Schmerzen dahinsiechte. Die Onkologie war noch nicht so weit wie heute. Annamaria war bei ihm, so viel es ihr möglich war. Auch ich verbrachte einige Zeit in Bozen. Mein Interesse galt allerdings mehr den umliegenden Bergen als dem Sterbenden und seiner mitleidenden Familie. Als der Tod ihn endlich erlöste, war ich in Götzendorf. Vieles in Italien dauert ewig. Beisetzungen nicht. Schon nach zwei, drei Tagen fand das Begräbnis statt. Wie später seine Frau wurde er in Locara beigesetzt.


Die Zeit verging. Annamaria wurde nicht schwanger, obwohl wir nicht verhüteten. Je länger wir warteten, umso intensiver wurde ihr Wunsch nach einem Baby. Mama und Mamma redeten auf uns ein. Was für eine Belastung so ein Kind mit sich brächte. Ich ging zu keiner Untersuchung. Wenn nicht, dann eben nicht. Die Natur wüsste schon, was sie vorhatte. Annamarias Jobs wurden immer aufwändiger. Neben den schriftlichen Arbeiten begleitete sie jetzt auch Geschäftsleute bei ihren Besprechungen als Dolmetscherin. Dabei stand sie einmal auf der höchsten zugänglichen Spitze eines der Nebentürme des Wiener Rathauses. Witterung und Smog hatten dem Sandstein so zugesetzt, dass eine gründliche Renovierung nötig geworden war. Eine italienische Firma hatte sich vor der Angebotslegung an Ort und Stelle vom baulichen Zustand zu überzeugen. Annamaria dolmetschte, quasi zwischen dem schwindelfreien Rathausmann und dem italienischen Anbieter, angeblich ebenfalls schwindelfrei. Sie war jetzt öfter beruflich unterwegs als früher. Manchmal blieb sie über Nacht weg, bisweilen auch ein paar Tage. Was mich wunderte, war oft die Unvorhersehbarkeit der Dauer. Es kam vor, dass sie überraschend ausblieb. Es gab noch keine Handys. Die Informationen über Telefon blieben oft spärlich.

Ich habe eine halbe Nacht

auf dem Bahnhof zugebracht

und all die Wartenden gesehn

mit hochgereckten Köpfen stehn

 

und werfen sich mit froher Lust

den Ankommenden an die Brust.

Doch, Zug um Zug hat sich entleert,

nur du bist nicht zurückgekehrt.

 

Ich streck den Finger in den Wind,

wo sonst die guten Geister sind,

doch heut sich keiner zeiget.

 

Mein Ohr lauscht flach am Schienenstrang –

sein Herzton, das Tang-tang, Tang-tang

der Räder aber schweiget.

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