14 Bristol

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Bristol

worin vorkommen:  Enns, Steyr, Oostende, Dover, Bath, Brighton, Southampton, Bournemouth, London, Redland, die Clifton Suspension Bridge, der River Avon, Laxenburg, Salzburg, der Gaisberg, der Untersberg, Leonard Bernstein, 'West Side Story', 'And then the Rain Came Down', sowie viele kleine Schmisse und ein ganz besonderer.

Ich melde ich mich freiwillig frühzeitig zum Bundesheer und muss dieser Freiwilligkeit halber zwölf statt neun Monate verbüßen. Einzurücken habe ich im kommenden Herbst, das eröffnet mir zwei freie Monate. Ich entschließe mich, diese Zeit in eine Autostoppreise nach England zu investieren.


Im Sommer 1959 hatte ich an einer Hilfsaktion der Tageszeitung ‘Kurier’ zugunsten der Hochwasseropfer im Raum Enns-Steyr teilgenommen. Ich begleitete einen anderen Helfer, der mit seinem Kombi Hilfsgüter, die Kurier-Leser gespendet hatten, ins Hochwassergebiet beförderte. Auf dem Rückweg nahm mein Fahrer zwei Autostopper mit nach Wien. Der eine war ein riesiger blonder Bursche namens John. Ich verabredete mich mit den beiden, Sie in den kommenden Tagen durch Wien zu führen, und das beinhaltete natürlich auch einen Besuch in meiner Elternwohnung in Ottakring, wo wir zu dritt mit meiner auf dem Fußboden im Zimmer meiner Großmutter aufgestellten Eisenbahnanlage spielten. John lud mich im Gegenzug nach Bristol ein, wann immer ich kommen hätte wollen.

 Dieser Augenblick war jetzt, 1962, gekommen. Mama brachte mich zur Westausfahrt Wiens, wo sie unter Tränen beobachtete, wie ich in den angehaltenen Wagen eines Fremden einstieg und in Richtung Autobahn entschwand. Für die Übernachtungen benutzte ich Jugendherbergen, wo ich erstmals Bekanntschaft mit jungen deutschen Männern machte, die mir äußerst präpotent vorkamen, aber das war wohl nur ihr notorisch forscher Umgangston, den ich nicht gewohnt war.


In Belgien gab es noch keine Führerscheinpflicht und das schien sich in einer der wildesten Autofahrten zu bestätigen, denen ich je beigewohnt hatte. Vermutlich hatte der kleine Pickup überhaupt keine Bremsen, denn der Fahrer versuchte, Hindernissen ausschließlich durch Umfahren auszuweichen. So vermied er mehrmals Auffahrunfälle durch Verreißen des Wagens auf den Gehsteig, wo er sich zwischen springenden Fußgängern und trägen Säulen mit Verkehrszeichen und haarscharf vorbei an Hydranten und Kinderwagen rettete, um am vorderen Ende des Staus auf die Fahrbahn zurückzukehren. Wie es zu einem Stillstand dieses Vehikels gekommen war, kann ich nicht mehr sagen, jedenfalls packte ich meinen Rucksack und flüchtete.


Es war heiß und ich hatte gegen den Durst eine Flasche Coke gekauft und in meine Trinkflasche aus Plastik geleert. Jetzt brauchte ich einen Schluck! Durch das Schütteln und die Hitze hatte sich die Flasche kugelrund aufgebläht. Als ich sie öffnete, bekam ich jenen warmen Schluck, der übriggeblieben war, nachdem der Großteil in einer Fontäne auf mich und die Straße gespritzt war.

 Ich nahm die Fähre von Oostende nach Dover, wo ich gegen vier Uhr früh ankam, nachdem ich den wunderbaren Blick vom Meer auf die Kreideküste unter dem Gekreisch der Möwen genossen hatte.


In Dover musste ich den noch verschlafenen Hafen durch enge Gassen zwischen Mauern und Drahtzäunen verlassen und die Möwenschreie klangen nun schaurig. Es dauerte noch eine Weile, bis auf der Straße nach London, wo ich Aufstellung genommen hatte, sich der erste Frühverkehr regte. Allerdings, als es soweit war, musste ich laut lachen, immer wieder. Bei uns in Wien waren die Autos damals ja keineswegs alle modern, aber was da in Dover an mir vorbeifuhr spottete jeder Beschreibung. Kisten aus den Zwanzigerjahren waren da dabei, teilweise aus Holz (die heute so raren alten Morris Minor), Motorräder mit Beiwagen aus dem Museum, offene Dreiräder mit Lenkern, die Pilotenhelme und Windbrillen aus dem Ersten Weltkrieg trugen, und weiß Gott was noch alles. Das Angenehme war, es dauerte nicht lang, bis einer davon anhielt. Meine Reise nach Bristol konnte weitergehen.


Familie Honeybeare wohnte in einem der typischen einfachen englischen Reihenhäuser am Stadtrand von Bristol. John war Starkstromtechniker und hatte beim Bau von Überlandleitungen zu tun. Seine Reise nach Österreich hatte nicht zuletzt Studienzwecken gedient, nämlich die österreichischen Fernleitungen zu begutachten. Johns Eltern waren äußerst liebenswürdige Leute, der Vater pensionierter Krankenhausportier, die Mutter wahrscheinlich schon immer Hausfrau. Wunderschön die gemütlichen Nachmittagstees mit Keksen. John hatte eine Verlobte, sie hieß Joan Steveleigh und hatte zwei Schwestern, die kleine Gillian und, in meinem Alter, Margaret. John nahm mich oft mit auf Besuch zu den Steveleighs, die in einem modernen Einfamilienhaus im benachbarten Vorort Redland lebten. Wir verbrachten die langen, langen Sommerabende auf den Downs beim Tenniscricket (Kricket gespielt mit Tennisschlägern). Es war das erste Mal, dass ich ein Tennisracket in Händen hielt. Auch gab es öffentliche Tenniscourts, wo man auf Makadam-Belag gratis spielen konnte. Ein früher Start meiner Senioren-Karriere. Es war hell und lau bis lang nach zehn. An Freitag- oder Samstagabenden fuhr ich mit John und Joan in seinem alten offenen MG zum Bristol Country Club. Er lag außerhalb der Stadt und man musste über die Clifton Suspension Bridge fahren, ein Wahrzeichen der Stadt Bristol, eine Hängebrücke von 400 Meter Länge, 75 Meter über dem Fluss Avon.


Es gab alternierenden Einbahnverkehr und man zahlte eine geringe Maut für die Benutzung. Im Country Club trafen wir manchmal auf Joans Eltern, Gillian und – Margaret! Es gab Bier für die Männer und Drinks für die Damen. Ein Sänger trug, begleitet von einem kleinen Tanzorchester, dezente Schlager vor, speziell erinnere ich mich an ‚And Then the Rain Came Down‘, ein Song, der von allem Anfang an Programm war für meine unglückliche Liebe zu Margaret.


Irgendwie hatte ich herausbekommen, dass in den Kaffeepackungen der Honeybeares unter dem gemahlenen Kaffee Plastikteile verborgen waren, die man zu kleinen Flugzeugmodellen zusammensetzen konnte. Die Dinger haben in mir eine unbezähmbare Gier erweckt. Dass es falsch war, wusste ich, dennoch habe ich nicht widerstehen können und drei oder vier neue Pakete geöffnet und durchstöbert, bis ich einen vollständigen Bausatz hatte. Mrs. Honeybeare hat die geöffneten Pakete schweigend zur Kenntnis genommen und vielleicht gerade deshalb habe ich mich noch mehr geschämt.


Vier wunderbare Wochen vergingen und da ich keine Anstalten machte abzureisen, fragte John mich eines Tages, wie lange ich noch bleiben wollte. Es war ganz unerwartet gekommen und glich dem verdienten Rauswurf aus dem Paradies. Ich verstand aber, dass ich diesen sicherlich nicht besonders wohlhabenden guten Leuten nicht für immer auf der Tasche liegen konnte. Nach Hause wollte ich aber auch nicht gleich und so machte ich mich auf eine Hitchhike-Tour hinauf nach Schottland, das ich in einer guten Woche umrundet hatte. Es ist schnell gegangen, nicht zuletzt, weil Joan meine Traurigkeit verstanden hat. Sie hat ihre Eltern noch vor meiner Abreise in den Norden dazu bewogen, mich in ihr Haus in Redland einzuladen. Und so stand ich bald wieder in Bristol vor der eleganten Haustür der Steveleighs. Dass ich nun mit Margaret unter einem Dach wohnen durfte, machte mein Glück vollständig.

Die Nachmittage und Abende auf den Downs gingen weiter so wie die gelegentlichen Ausflüge in den Country Club. An Wochenenden machte Mr. Steveleigh mit der ganzen Familie Ausfahrten nach Bath, Salisbury, Brighton, Southhampton oder Bournemouth. Im betagten aber gediegenen Wolseley (wie musikalisch das Getriebe surrte!) saß ich auf duftendem Leder neben Margaret, die es manchmal duldete, wenn ich ihre Hand hielt, dann aber wieder – ich hatte keine Ahnung, wovon es abhing – mich anzischte: „Keep your hands to your own!“


Um meine britische Freundin zu beeindrucken, erklärte ich mich zur österreichischen Sportlerhoffnung. Das geschah nicht vorsätzlich, sondern passierte mir ganz spontan, als es im Gespräch um Sport ging. Margaret fragte mich, welche Sportart. Seltsam, das Nächstliegende fiel mir nicht ein. Von Fußball hatte ich ja eine gewisse Ahnung. Vom Rudern nicht die geringste. Trotzdem sagte ich Rudern. Na ja, gerudert hatte ich schon, eine Runde auf dem Schlossteich in Laxenburg. Damit war das Thema ein für alle Mal erledigt. Mein schmächtiges Oberkörperl und die schmalen Burscherloberarme entlarvten mich als Angeber.


Ich fühlte mich bemüßigt, etwas über das Salatwaschen mit Gillian hinaus für die Allgemeinheit beizutragen und kam auf die Idee, den Steveleighs Wiener Schnitzel zu bereiten. Mrs. Steveleigh gab mir das Geld für das Fleisch. Ich erinnerte mich, dass ein richtiges Wiener Schnitzel nicht vom Schwein kam und kaufte also Rindfleisch, keine Ahnung was für eines. ‚Fleischschlögel‘ konnte ich nicht übersetzen, also fuchtelte ich so lange mit den Händen, bis Mrs. Steveleigh erriet: „Oh, a meat tenderizer!“ Es gab aber keinen und so verwendete ich einen Hammer. Das Panieren ist recht gut gelungen, nicht nur des Fleisches, auch der Küche. Nur waren die Schnitzel sehr, sehr schwarz, als ich sie aus der Pfanne nahm. Das konnte man in dem schwarzen Rauch aber ohnehin nicht gut sehen. Trotzdem war das Fleisch hart wie Schuhsohlen, aber die Steveleighs haben sie schweigend gekaut ohne zu murren. Zum Glück hat meine Oma beim Gegenbesuch der Steveleighs in Wien das Jahr darauf die Wiener Küche rehabilitieren können.


Ich lud Margaret ins Kino ein zu ‚West Side Story‘. Den Film hatte ich schon früher gesehen und bete seither und bis heute Bernstein an. Jedoch Margaret’s Kommentar „A movie for those who like brawling and killing“ ließ mich ratlos zurück und von diesem Augenblick an war ich mir meiner Liebe nicht mehr so sicher. Ganz zerbrechen sollte unsere Bekanntschaft längere Zeit später. Ich pflegte etliche Brieffreundschaften mit jungen Leuten in Finnland und England. Auch ein Mädchen in Bristol war darunter. Ich schrieb ihr über meinen Englandurlaub und über Margaret und ich, der Reifste von ganz überall, sprach dabei Margaret geistige Reife ab. Pech nur, dass die Brieffreundin eine Schulkollegin Margarets war und sich natürlich sofort mit ihr über meinen Brief austauschte. Wenig später erhielt ich einen fuchsteufelswilden Brief von Margaret, der meine Bristolepisode unwürdig und endgültig beendete. Ich habe von den Steveleighs nie ein Wort darüber gehört, dennoch fürchtete ich, dass ich in den Augen jedenfalls der Eltern ein junger Deutscher gewesen bin, Sohn der Feinde also, die noch vor kurzer Zeit mit aller Brutalität gegen sie gekämpft hatten. Dieser Schmiss schmerzte mich noch lange und immer wieder und auch heute noch, weil ich mich nicht nur selber damit disqualifiziert, sondern wahrscheinlich auch ein Stereotyp bekräftigt habe.


Die Tage beginnen, kürzer zu werden, sogar in Bristol, also mache ich mich auf den Heimweg. Um noch eins draufzusetzen, wähle ich eine Route über die Schweiz, obgleich das Bargeld knapp geworden ist. Für die letzten Rappen kaufe ich einen Laib Brot und, damit es nicht trocken sei, eine Tube Senf. Damit würde ich mich bis nach Wien durchschlagen. Ein sehr günstiger ‚Lift‘ bringt mich nach Salzburg. Es ist schon Nacht, als ich an der Autobahn aussteige. An der Autobahn liegt auch die nächste Jugendherberge, allerdings etliche Kilometer entfernt. Also wandere ich in diese Richtung. Es ist eine klare und laue Sommernacht, silbrig glänzen Gaisberg und Untersberg unter einem runden Vollmond. Nach einer Viertelstunde beginne ich mich zu wundern. Das Licht wird immer dünner, eine unwirkliche Stimmung ergreift die nächtliche Landschaft und mich. Ein zufälliger Blick zum Mond und, ich glaube es kaum, dem fehlt ein gutes Stück! Dass ich von Mondesfinsternissen schon gehört habe, verhindert, dass mir das Herz in die Hose fällt, aber das völlig überraschende Phänomen sorgt dennoch für prickelnde Erregung. Ich stelle mir vor, welche Wirkung so ein Naturschauspiel auf ahnungslose Primitive gehabt haben mag, die dafür keine astronomische Erklärung hatten. Auf die weitere Suche nach der Jugendherberge verzichte ich, die ist ja ohnedies sicherlich schon zugesperrt, sondern setze mich an einen Busch und beobachte den Verlauf des Ereignisses. Dabei bin ich wohl eingeschlafen, denn das Nächste, das ich erinnere, ist eine riesige rote Sonne über dem östlichen Horizont. 

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