Avvisi di Citazione

Avvisi di Citazione

worin vorkommen: der Kapin, Turku, Uusikaupunki, Rivolto, Landeck, Nobby Stiles, Black & White, sowie der Schrecken der italienischen Schadenabteilungen

Ein frisch bebautes Grundstück kann schon sehr trostlos aussehen, selbst wenn es in einer wunderschönen Landschaft liegt. Das Fehlen von Pflanzen rundum verstärkt noch den verstörenden Eindruck. Die Straße ist noch unbefestigt, ebenso wie der ansteigende Weg zum Haus herauf. Man muss gut aufpassen, im Winter, dass man keine unfreiwillige Rutschpartie zur Straße hinunter macht, bei Regen, dass man Stellen findet, an denen der Gatsch nicht allzu tief ist. Die ersten Pflanzen auf dem Grundstück haben wir Frau Dorn zu verdanken. Da sie regelmäßig zu uns putzen kam, stach auch ihr das Fehlen von Bepflanzung ins Auge. Unaufgefordert brachte sie Schwertlilien und setzte sie ein. Sie brachte auch einige wenige Zweige eines Bodendeckers, die wir in die Böschungen steckten. Noch sahen sie ganz verloren aus. Aber Frau Dorn versicherte, in ein paar Jahren würden sie alles zugedeckt haben. Sie sollte Recht behalten.


Von einem längeren Spaziergang mit Soile am Fuß des Kapins brachten wir eine Lärche mit, einen ganz jungen Trieb und eine ebenso junge Birke. Die Birke gabelte sich ganz unten in zwei Triebe. Uns gefallen solche Zwillingsgewächse. Ein Sinnbild der Liebe, findet Soile. Wie die aus dem Boden ragenden zwei Füße eines Unglücklichen, der kopfüber in der Erde feststeckt, finde ich. Die Lärche erlitt später einen schrecklichen Unfall. Ich habe sie beim Rasenmähen übersehen und geköpft. Sie hat es mir aber verziehen und sollte trotzdem eine wunderschöne Riesin werden, die das Haus längst überragt. Ihre Äste in Kopfhöhe bilden zusammen mit denen eines Essigbaums einen Torbogen dort, wo man das Grundstück betritt. Im Lauf der Zeit sind noch viele Pflanzen dazugekommen. Eine Akazie ist sehr hoch gewachsen, obwohl die Winterstürme und Schneelasten sie immer wieder schwer verwundet haben. Dasselbe ist mit der Zierkirsche passiert und mit der Eiche. Von der ist letztlich nur ein kleiner Zweig übriggeblieben. Den habe ich aber gestützt und gebunden und überredet, zu einem neuen Stamm zu werden. Die Eiche beschattet jetzt einen Teil der Westterrasse. Der anderen Seite spendet eine Trauerweide Schatten. Darunter ruht unser Ugolino seit er einmal zu Ostern eingeschläfert werden musste. Es gibt noch einen Apfelbaum ganz oben am Hang. Er trägt aber nur kleine, runzelige Früchte. Aus Finnland haben wir in einem Topf einen Zwergwacholder mitgebracht. Ein niedriger Kegel, den wir in Turku als Weihnachtsbaum verwendet hatten. Vielleicht werde ich eines Tages Gin brennen? Der Rhabarber stammt aus Uusikaupunki, hat aber schon eine kleine Odyssee hinter sich. Er stand schon in unserem Hof in Rivolto. Dort in der Hitze hatte er sich sehr wohlgefühlt. Hier taugt es ihm weniger, vielleicht weil er im Schatten zweier Haselsträucher steht, die im Lauf der Zeit hoch und dicht aufgewachsen sind. Ein Sommerflieder und ein Jasmin grenzen die Terrasse von der benachbarten Kuhweide ab, sowie ein dritter Strauch mit schönen dunkelroten Blüten, dessen Bezeichnung wir nicht kennen. Vor dem Fenster im Untergeschoß steht eine wunderschöne Magnolie. Sie hat inzwischen schon den ersten Stock erreicht. An der Ostseite die zwei Fliederbüsche wachsen um die Wette. Sie bilden einen natürlichen Sichtschutz zum Strasser-Haus und vielfältige Annäherungsmöglichkeiten für die Vögel zum Futterhäuschen.


Frau Dorn hatte ein Alter erreicht, in dem das Putzen ihr nicht mehr leichtfiel. Dazu ging es ihrem Mann schlechter und sie musste sich vermehrt um ihn kümmern. Eines Tages überraschte sie uns mit der Mitteilung, dass sie das Putzen bei uns aufgeben müsse. Sicherlich hatte sie den Gedanken schon lange gewälzt, den Entschluss aber immer wieder hinausgeschoben, vielleicht in der Furcht, er könnte sich auf Hannas Anstellung bei uns ungünstig auswirken, aber auch in der Gewissheit, dass ihr Ausfall uns Probleme bereiten würde. Fremde im eigenen Haus arbeiten zu lassen setzt Vertrauen voraus. In einem Büro voller sensibler Informationen und Daten umso mehr. Frau Dorn hatte sich darüber nicht nur Gedanken gemacht, sie hatte auch schon eine Lösung vorzuschlagen. Unsere Nachbarin, Frau Strasser, wäre bereit, den Job zu machen.


Kurz danach stellte Frau Strasser sich bei uns vor. Eine robuste Mittdreißigerin, nett und offenbar arbeitswillig. Zwei Kinder, ein Sohn, noch keine zehn, und ein noch kleineres Mädchen. Ihr Mann Bauarbeiter. Nach Kärnten immigriert, genau wie wir, aber aus ganz anderer Richtung: Landeck in Tirol. Sie putzte in der Shell-Tankstelle in Thörl und würde sich gern noch etwas dazuverdienen. Ihre Tiroler Herkunft passte gut zu unserer Internationalität. Wir wurden uns rasch einig und so war Frau Strasser bald unsere Karin. Sie machte ihre Sache gewissenhaft und voller Elan und war absolut vertrauenswürdig. Es dauerte nicht lang und wir hatten sie richtig ins Herz geschlossen.


Karin vermittelte uns ihren Mann Walter für die Befestigung des Weges von der Straße zum Haus und der Terrasse vor dem Büro. Er errechnete den Materialbedarf und bestellte es für uns. Ich kann nicht mehr sagen, ob er sich für die Arbeit Urlaub nahm oder ob er gerade stempeln ging. Das tat er vorwiegend im Winter, es kam aber auch sonst manchmal vor. Jedenfalls waren es sehr heiße Sommertage. Walter arbeitete ganz allein, während wir im Büro schwitzten, vor dessen Fenstern er begann, mit dem Krampen den Boden zu ebnen und die Einfassungen aufzustellen. Vorsorglich hatte ich eine Kiste Bier beschafft, bewahrte es aber in unserem kühlen Archiv auf. Warmes Bier schmeckt nur den Engländern. Ich ermunterte Walter, einfach zu melden, wenn er ein Bier brauchte. Es war eine schwere Arbeit in dieser Hitze und Walters Durst war chronisch. Ich glaube nicht, dass er mit der Scheibtruhe am Fenster vorbeikam, ohne mit der Hand die Trinkbewegung zu machen. Einer von uns ging dann die nächste Flasche holen. Am zweiten Tag war die Kiste leer und ich brachte ein paar neue. Ich wunderte mich, wie Walter bei diesem Bierverbrauch so zielstrebig und zügig arbeiten konnte. Die Terrasse und der Gehweg hinunter zur Straße wurden mit roten Formbetonsteinen gepflastert. Der Weg war nicht abschüssig, aber doch von einer gewissen Neigung. Er war breit genug, um von einem Fahrzeug befahren zu werden, doch eine Stufe am unteren Ende und zwei weitere in der Mitte erlaubten das nicht, was uns durchaus Recht war. Wir wollten keine Autos am Haus. Die konnten kurzfristig auf dem Umkehrplatz abgestellt werden oder auf dem schmalen Wiesenstreifen talseitig der Straße. Dort stellte später einer unserer Tennisfreunde ein Doppelcarport mit Werkschuppen auf. Er baute äußerst massiv, was sich bei den ungeheuren Schneelasten mancher Winter bewähren sollte. Gleichzeitig wurde endlich die nackte Betonstiege hinauf zum Privateingang mit schweren Holzstufen abgedeckt. An deren oberem Ende entstand ein Windfang vor diesem Eingang und hinter dem Haus zum Hang hin ein Geräteschuppen. Neben dem Carport blieb uns noch Platz für einen nicht überdachten Abstellplatz unter einer weiteren Trauerweide. Darunter lagerten wir die Palette Pflastersteine, die sich als überschüssig herausgestellt hatten. Wahrscheinlich hätten wir sie zurückgeben können, aber das hätte Transportkosten bedeutet und wer weiß, wozu man das Material noch brauchen würde.

Damals gab es zwischendurch noch schneereiche und kalte Winter. Es gab reichlich zu schaufeln, insbesondere wenn der Schneepflug die ganze Länge des Carports mit einem meterhohen Wall zuschüttete. Soile schaufelte tapfer mit. Es bereitete ihr Unbehagen, wenn sie nicht jederzeit mit ihrem Wagen wegfahren konnte, auch wenn dazu keine aktuelle Veranlassung vorlag. Sie hatte jetzt ein eigenes Auto. Was heißt, Auto? Sie hatte ein Cabrio! Einen flotten silbergrauen Peugeot 207cc, dessen Dach bei Bedarf auf Knopfdruck im Kofferraum verschwand. Das Spielzeug war zugelassen für vier, aber auf den Rücksitzen fanden höchstens die kleinen Enkel Platz, Waltteri und Julianna, wenn sie mit Esa und Sanna bei uns urlaubten. Mit Bebe (Bebe, weil das Kennzeichen auf BB endete und in Anlehnung an Baby (auf Finnisch), so hieß das rollende Familienmitglied, machten sie Ausflüge in der Umgebung, oft auch zum Pressegger See, wo die Kleinen sich im Erlebnispark vergnügten. 

In den erwähnten Wintern stellte sich heraus, dass der Gehweg gefährlich war. Leicht konnte man ausrutschen und sich etwas brechen. Das konnten wir unseren Besuchern nicht zumuten und wir selbst durften schon gar nicht ausfallen. Also beauftragte ich eine Gartengestaltungsfirma, den Weg umzubauen in eine Treppe. Walter wollten wir dazu nicht heranziehen. Eine offizielle Rechnung konnten wir abschreiben. Die Treppe wurde gebaut. Nun war die Rutschgefahr entschärft, aber die Stufen erwiesen sich als ergonomisch ungünstig. Zu breit für einen Schritt, zu schmal für zwei. Wenn ich sportlich hinunter spurte, geht es sich mit einem Schritt pro Stufe aus. Doch in gemächlichem Tempo bieten wir beim Gang zur Straße hinunter eine witzige Show. Ein Schritt, Stufe, zwei Schritte, Stufe, wieder zwei Schritte, Stufe, ein Schritt, Stufe, und so weiter. Ach, ihr Fachleute!


Auch ich war unsere zwei Veteranen, den Uno und den Croma, inzwischen losgeworden und hatte einen neuen Mazda 626 geleast. Eine ganz ungewohnte Wegfahrprozedur! Nicht von einem Fiat zum anderen hüpfen, bis sich einer davon bereiterklärte zu starten. Nein, die Stiege hinunter, die Tür geöffnet, eingestiegen, den Schlüssel gedreht und ab die Post. That’s smart driving.


Finanzskandale waren in Italien an der Tagesordnung. Alle Zeitungen waren voll davon. Man nahm kaum mehr Notiz davon. In Österreich waren sie seltener, gerade deshalb aber weit auffälliger. Nahm man eine italienische Zeitung zur Hand, konnte man erfahren, gegen welche prominenten Akteure am Vortag die Voruntersuchung zu einem Strafverfahren eingeleitet wurde. Sie erhalten ein „Avviso di Garanzia“, die offizielle Verständigung von der Staatsanwaltschaft, dass gegen sie als Beschuldigte ermittelt wird. Das Emblem auf den Aufschlägen des Uniformrocks und an der Kappe der Carabinieri stellt eine Bombe dar, aus der Flammen lodern. Das droht einem Beschuldigten, wenn er das Avviso di Garanzia erhält: Es brennt der Hut. Sofern nicht Untersuchungshaft verhängt wird, droht die Gefahr allerdings nicht unmittelbar. Gottes Mühlen mahlen langsam und die der italienischen Justiz noch viel langsamer. Bis es zu einer Anklage kommt, können schon einmal mehrere Jahre vergehen. Trotzdem wird der Erhalt eines Avviso di Garanzia meistens nicht auf die leichte Schulter genommen. Man muss sich einen Anwalt nehmen, für Vernehmungen zur Verfügung stehen, die Polizei kann im Umfeld unangenehm umrühren und die Ungewissheit über den Ausgang nagt. Beim Lesen eines Artikels über so ein Avviso di Garanzia kam mir die Idee, den allgemeinen Respekt vor dieser Maßnahme für unsere zivilrechtlichen Zwecke zu nutzen. Wenn wir einer Versicherung mitteilten, dass unsere Geduld zu Ende wäre und wir demnächst klagen würden, machte das dort keinen nennenswerten Eindruck. Solche Mitteilungen erhielten sie jeden Tag zuhauf. Sie rechneten damit, dass sie vor einer Klage noch wenigstens zehn Schreiben von einem Anwalt bekommen würden, dazwischen lange Pausen. Selbst wenn die Klagsdrohung von einem Anwalt stammte, betrachteten die Schadenabteilungen sie als nicht mehr als rhetorisch. Die Anwälte klagten nicht gerne. Es machte viel Arbeit und man konnte leicht Fehler machen. Sie waren meistens sehr, sehr geduldig. Stampanato hatte ich regelrecht beknien müssen, bevor er nach langem Hin und Her eine Klage verfasste. Da ritt mich eines Tages der Teufel und ich schickte der Gegenseite die Klagsdrohung in Form eines Avvisos. „Avviso di Citazione“ (Citazione = Klage) stand groß und fett über dem Dokument. Die Sachbearbeiterin muss schockiert gewesen sein. Sie rief mich sofort an. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Was das für eine Norm wäre, auf die wir uns da bezögen. Ob das unser Ernst wäre, und so weiter. Der Clou war, ich konnte in dieser Aufregung die Sache günstig erledigen. Von da an verschickten wir, sobald wir es für angezeigt hielten, Avvisi di Garanzia routinemäßig. Wir achteten darauf, dass das keine leere Drohung blieb und kurz darauf wirklich die Klage zugestellt wurde. Mit Marian konnte ich mir das erlauben. Er war bereit, unsere Vorkorrespondenz als ausreichende außergerichtliche Versuche anzusehen. In der Regel schrieb er keine eigenen Mahnbriefe, sondern redigierte sofort die Klage, nachdem er die Materie scharfsinnig durchleuchtet hatte. In unseren Konferenzen diskutierten wir die Chancen und Risiken der Causen. Meistens waren wir uns darüber einig. Marian verlangte keine exorbitanten Kostenvorschüsse. Nur die zu erwartenden Barauslagen mussten vorgeleistet werden. Unsere Auftraggeber, die es anders gewohnt waren, freuten sich. Die Klagen wurden abgefeuert wie die Granaten. Die Schadenabteilungen lernten und nahmen unsere Avvisi ernst. 


Der Einsatz dieser Gepflogenheit passte gut in unser ganzes Auftreten gegenüber den Schadenabteilungen. Es war so wie in meiner Zeit als Verteidiger bei Black & White. Hart, aber fair. Kompromisslos. Sie nannten mich Nobby Stiles. So agierte Claims Service. Freundlich im Diskurs, beinhart im Vorgehen. Und so begegneten uns die Damen und Herren Liquidatori. Freundlich im Diskurs, im Vorgehen hart, aber gerecht. Mehr brauchten wir nicht. Kein Kuhhandel. Wir pflegten zu bekommen, was die Rechtslage hergab. Das reichte. Mehr verlangten wir nicht. Die Freundlichkeit der Liquidatori war zwiespältig. Sie mochten und hassten uns zugleich. Sie vertrauten uns, empfanden uns aber gleichzeitig als gefährlich. Die ihnen geläufigeren Kuhhändel hätten sie oft besser dastehen lassen.

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