worin vorkommen: Krumpendorf, Rivolto, Maria Gail, Ljubljana, Maribor, Zagreb, Budapest, Prag, England, Schladming, das Gailtal, Arnoldstein, Draschitz, Dreulach, Achomitz, Feistritz an der Gail, Stossau, Gailitz, Barcelona, Spanien, Portugal, Triest, Katalonien, Montserrat, Paris, Milano, Torino, Wien, Hohenthurn, Udine, der Tagliamento, San Daniele, Osoppo, Tricesimo, Codroipo, Graz, Finnland, Schweden, die Brennergrenze, Tarvisio, Pordenone, Aviano, Graz, Villach, Amaro, der Friuli, Wolfgang Schüssel, Franz Vranitzky, Bruno Kreisky, Jörg Haider, Amfortas, Parzifal, die Tonttus, Rübezahl, die Rosenheim Cops, sowie wie die Post- und Telegrafendirektion uns zu einer Erotikhotline verhalf
Grupitsch treffen wir erstmals in einem Café in Krumpendorf. Er vertritt die Holzbaufirma, die den Namen eines bekannten Kärntner Eishockeyspielers trägt: Pleschko. Wir zeigen ihm die Pläne, die eine andere Firma nach unseren Vorstellungen gezeichnet hat. Die Pläne gefielen uns, aber die Gespräche mit dieser Firma sind ärgerlich verlaufen und daher wollten wir ihr den Auftrag nicht erteilen. Die Planung haben wir selbstverständlich bezahlen müssen. Jetzt gehören die Pläne uns. Wir erklären Grupitsch einige Änderungen, die uns noch wünschenswert scheinen. Er verspricht, einen Kostenvoranschlag auszuarbeiten. Nach kurzer Zeit besucht Grupitsch uns in Rivolto. Wir sitzen an unserem Esstisch. Er zeigt uns die geänderten Pläne für den Holzriegelbau auf dem betonierten Untergeschoß. Noch spannender wird es beim Kostenvoranschlag, der nur den Rohbau betrifft. Alle anderen Leistungen bis zur bezugsfertigen Übergabe hat er auf ein paar Zetteln handschriftlich aufgelistet. Das komme so viel günstiger. Wir brauchen uns um nichts weiter kümmern. Er werde den Bau persönlich überwachen. Das ist uns besonders wichtig. Unsere Arbeit lässt uns nicht viel Zeit für zusätzliche Probleme und wir können auch nicht oft auf der Baustelle sein. Einziehen könnten wir im Herbst.
Die Gesamtkosten kennen wir aus einem vorangegangen Telefonat, daher sind Soile und ich uns schon grundsätzlich einig über das Vorhaben. Grupitsch macht einen ehrlichen Eindruck. Im Gespräch über die Einzelheiten zeigt er auch lebhaften Humor. Das kommt mir entgegen und wir lachen viel im Gespräch. Jedes Mal, wenn Grupitsch lacht, haut er mit der Faust auf unseren zierlichen Tisch. Er sieht nicht die geschliffenen Facettengläser unter dem Tischtuch. Sie scheppern bedenklich. Soile ist sicher, es werde noch Scherben geben, aber die Gläser halten. So kommen wir überein. Grupitsch hat den Vertrag schon mitgebracht und wir unterschreiben. Grupitschs Faust fährt ein weiteres Mal nieder auf den Tisch zur Bekräftigung. Wir haben ein paar Sorgen mehr.
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Nach einem Maria Gail-Aufenthalt wieder unterwegs nach Rivolto. Klar, dass wir nicht an Hohenthurn vorbeifahren können, ohne unser Land zu besuchen. Vielleicht hat sich ja schon etwas getan mit der Hütte. Es schüttet Katzen und Hunde. Die Scheibenwischer rasen. Wir biegen ein in die steile Kurve des Fahrwegs. Gleich hinter der Biegung muss ich anhalten. Ein Wagen steht mitten auf dem Weg. Kein Platz zum Vorbeifahren. Das Auto steht vor dem bereits bestehenden Haus. Auf der Zufahrt zu dem Haus wäre Platz genug, aber nein, der PKW steht mitten auf der Straße. Er muss da schon länger stehen. Wenn er während des Regens angekommen wäre, wäre man sicher näher ans Haus herangefahren, um beim Aussteigen nicht durchnässt zu werden. Aus demselben Grund bleiben wir schön in unserem Croma. Vielleicht bemerkt man uns ja. Das scheint nicht der Fall zu sein. Ich hupe. Jemand schaut aus dem Fenster im ersten Stock. Er oder sie schaut ein paar Augenblicke, wundert sich wohl, was wir hier wollen. Hier ist ja nichts. Was hat der Italiener in dieser Sackgasse zu suchen? Glaubt er, hier geht’s nach Udine? Endlich verschwindet die Person vom Fenster. Nach einer ganzen Weile öffnet sich die Haustür. Ein Mann mit Schirm stürzt sich in den Regen. Während er zu dem Wagen hastet, wird er sichtlich durchnässt, trotz des Schirms. Umständlich sperrt er das Fahrzeug auf, schlüpft hinein und bewegt das Auto zur Seite. Der Starkregen verhindert jede Konversation. Mit einem dankenden Handzeichen fahren wir vorbei.
Bei diesem Wetter steigen wir auch an unserem Grund nicht aus. Zufrieden nehmen wir die eingeschlagenen Holzpflöcke zur Kenntnis, welche die Position des zukünftigen Gebäudes umreißen. Ich wende und passiere wieder das Nachbarhaus. Der andere Wagen steht jetzt nahe am Hauseingang. Das ist unser erstes Zusammentreffen mit Walter Strasser. Der fragt sich jetzt bestimmt, wofür diese Aktion gut war, wozu er diese Dusche nehmen musste. Ich hoffe inständig, dass der Vorfall nicht abfärben wird auf unsere nachbarschaftliche Beziehung.
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Die Geschäfte laufen gut. Von Jahr zu Jahr mehr Sektstoppel. In der sommerlichen Reisezeit werden die Abstände zwischen den Alkoholgelagen kurz und kürzer. Von allen Seiten ernten wir lobenden Zuspruch. Wir unternehmen Reisen, einerseits um neue Geschäftsbeziehungen anzuknüpfen, andererseits um die Verhältnisse mit den Gesellschaften zu verbessern, gegen die wir die Forderungen unserer Kunden zu richten haben. Der Auftrieb, den wir der Zusammenarbeit mit Rechtsanwalt Marian verdanken, lässt uns intensiv nach gut funktionierenden Anwälten in den Ländern suchen, wo wir viel operieren. Wir begeben uns dazu nach Ljubljana, Maribor, Zagreb, Budapest, Prag. Anwälte in Deutschland und der Schweiz treiben wir auf durch Kontakte, die sich aus konkreten Schadenfällen ergeben. Die Schadenregulierung in England funktioniert, wie alles Britische, ein bisschen anders. Siehe Tennis. Die Richter sind wirklich völlig unabhängig, weitgehend auch von der Judikatur. Daher ist kein Prozessergebnis einigermaßen sicher vorherzusagen. Prozessiert wird fast nur um große Brocken, kaum um Peanuts. Hier arbeiten wir mit Des Stanton zusammen, unserem heiteren Tischgenossen in Schladming. Seine Einsätze für uns brachten manchmal gute, manchmal weniger gute Ergebnisse, immer aber britischen Humor. Was immer wir unternehmen, es geschieht im Hinblick auf unser kleines Unternehmen, das Größeres bewegt. Umgekehrt, was immer wir privat unternehmen, es geschieht nichts, was nicht auf irgendeine Weise mit dem Geschäft verbunden ist. Selbstverständlich dient das Hausprojekt in Hohenthurn nicht dazu, dass wir uns ein Liebesnest in romantischer Umgebung schaffen wollen. Dazu hätte Maria Gail genügt. Nein, schon steht die Absicht fest, unser Claims Service auf etwas breitere Beine zu stellen. Italien ist immer noch unser wichtigstes Operationsgebiet, aber nicht mehr das alleinige. Was wir machen, ist nicht an einen bestimmten Ort gebunden. Die Kommunikationstechnik schreitet voran. Erste einfache Handys werden populär. Datenübertragung. Was wir machen, könnte man auch von einer Hochseejacht aus bewerkstelligen. Warum also nicht aus dem Kärntner Gailtal? Die wichtigen Münchner Manager würden sich daran stoßen. Jene, die uns kennen tun es nicht. Das ganze Untergeschoß unseres werdenden Hauses ist unserer Firma gewidmet. Von der unteren Terrasse betritt man einen großen Büroraum mit vier bis fünf Arbeitsplätzen, davon zwei im hinteren Teil, die Soile und mir gehören. Dahinter im Flur Kopierer, kleine Kaffeeküche und WC. Ein großer Archivraum. Das ist der sicherste Raum im Haus. Der vorgeschriebene strahlensichere Schutzraum mit extra dickem Beton. Das kleine Oberlichtfenster im Plan hat keine Baubehörde gestört. Der Weinkeller unter der Stiege und die Waschküche sind eine Anleihe des Wohnbereichs von der Firma.
Was soll geschehen mit Rivolto? Am einfachsten wäre, verkaufen. Aber einfach ist bei uns gar nichts. So viel Herzblut steckt in diesem alten Kasten, so leicht gibt man das nicht auf. Und dann, die Basis in Italien aufzugeben kommt nicht in Betracht. Es wäre an der Zeit, an die Aufnahme von Grüne Karte-Schäden in unser Angebot zu denken. Aber wer könnte bereit sein, für uns als Deckungsgesellschaft zu fungieren? Das UCI wollte keine Privatfirmen ohne Deckungsgesellschaft zulassen. Glücklicherweise und ohne unser Zutun hat die EU kürzlich entschieden, dass doch. Damit sollte sich für uns diese Möglichkeit eröffnen. Die Frage ist, ob Lovetti sich aus dem Fenster stürzt, wenn eine ausländische Gesellschaft dieses komische Büro in Rivolto mit der noch komischeren Finnin und dem österreichischen Komiker als Korrespondenzgesellschaft nennt. Ich vermute, dass Lovetti lieber alle diese Schadenfälle ans UCI binden würde, was ihm trotz aller Korrespondenzverträge möglich wäre. Wir machen den Test. Die finnische Fennia nennt Rivolto Claims Service als Korrespondenzgesellschaft. Zu meinem Erstaunen erhebt das UCI keinen Einwand. Vielleicht denkt Lovetti, die Fennia werde das bald bereuen und die Sache werde sich von selber erledigen. Der Vertrag ist fixiert. Wir werden die von Versicherten der Fennia in Italien verursachten Schäden von Rivolto aus regulieren.
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Der größere Nachbarort von Hohenthurn ist Arnoldstein. Kleinstadt wäre zu viel gesagt, es ist eine Marktgemeinde mit etwa siebentausend Einwohnern, fast zehnmal so viel wie Hohenthurn. Wobei die achthundert Einwohner von Hohenthurn auch die fünfhundertsiebzig Bewohner der zur Gemeinde gehörenden Nachbarortschaften umfassen. Draschitz, Dreulach und Achomitz liegen aufgefädelt an der Landesstraße nach Westen zu in Richtung Feistritz. Stossau hingegen im Osten kurz vor Arnoldstein, von dessen Ortsteil Gailitz nur durch den gleichnamigen Fluss getrennt. Durch Gailitz führt die Kärntnerstraße in die City von Arnoldstein, wo am Hauptplatz Gemeindeamt, Post, Apotheke, das Café Central und ein paar Geschäfte versammelt sind, so wie auch die Raiffeisenbank. Hier in der Bank haben wir einen Termin mit Frau Sabbadini. Es geht um einen Kredit für den Hausbau. Eigentlich erwarte ich mir eine Absage. Da kommen zwei Gestalten, nicht mehr ganz frisch, aber ziemlich frisch verheiratet, er Wiener, sie Finnin, noch nicht lang gemeldet in Maria Gail, selbständig in Italien mit einer obskuren Tätigkeit mit ungewissem Einkommen und wollen in Hohenthurn ein Haus bauen, brauchen dafür Geld. Würde ich denen ein paar zigtausend Schilling Kredit gewähren? Ich glaube nicht. Andererseits, ein paar hunderttausend vielleicht eher, hört man immer.
Das Gespräch mit Frau Sabbadini entwickelt sich als angenehme Plauderei. Ich schildere, warum wir was machen, in Italien, aber eigentlich in Europa, und dass in Hohenthurn sozusagen unsere neue Zentrale entstehen soll. Wahrscheinlich haben wir Glück, dass es der Bank gerade ins Konzept passt, Kredite zu vergeben. Mit der Jahre später verbindlich werdenden Kapitaladäquanzverordnung wäre das vermutlich nicht mehr möglich. Andererseits wird sich die Bank ja ins Grundbuch eintragen und können wir unser Haus in Rivolto als Eigenkapital ins Treffen führen. Sabbadini kopiert die mitgebrachten Unterlagen und kündigt an, die Bank werde die Besitzverhältnisse von Rivolto überprüfen und eine interne Bewertung der Liegenschaft vornehmen. Wenn alles so sei wie angegeben, halte sie die Kreditgewährung für durchaus wahrscheinlich.
Wir sind erleichtert. Jetzt können wir davon ausgehen, dass der Bau zügig vorangehen kann und nicht davon abhängt, ob und wie viel Geld wir nach und nach zur Verfügung haben werden.
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Vorladung zur Bauverhandlung an Ort und Stelle. ‚Richterweg‘ ist die Adresse bezeichnet. Die Hausnummer 78. Na also, jetzt ist eine Straße nach mir benannt, wenn auch nicht ehrenhalber. Wir sind nicht zu spät, aber knapp dran. Auf dem Fahrweg zwischen den Wiesen ist schon ein Grüppchen Menschen versammelt. Der Bürgermeister, Tschikof, ein großer Mann mit Schnauzbart, hält den Plan in Händen, Grupitsch und die geladenen Nachbarn stecken die Köpfe zusammen über dem großen weißen Papier. Peter Dorn ist da und die Anrainer von oberhalb, der Viehbauer Wiegele mit Frau, Frau Perhinig die Vermieterin der Ferienappartements, Walter Strasser, der Mann mit dem Regenschirm. Frau Perhinig ist besorgt um die Höhe des Gebäudes. Seinerzeit war sie unangenehm überrascht über die Höhe des Strasser-Hauses. Zwar verstellt es ihr und ihren Feriengästen nicht die schöne Aussicht, aber das Dach ist doch deutlich sichtbar von oben. Sie drängt darauf, dass unser Haus nicht so hoch oben stehen solle. Unsere Firsthöhe liegt aber deutlich niedriger als Strassers. Trotzdem stimme ich zu, mit dem Gebäude ein paar Meter weiter hinunter zur Straße zu rücken. Perhinig ist damit zufrieden. Tschikof will wissen, was für einen Zaun ich errichten werde. Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich fürchte schon, es gäbe eine Verpflichtung dazu. „Am liebsten gar keinen“, sage ich. Damit ist Tschikof sehr zufrieden. Vielleicht hat er befürchtet, hier entstünde ein Fort Knox. Es gibt schließlich keine Einwände gegen das Projekt, und es kann endlich losgehen.
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Auf der Baustelle in Hohenthurn. Grupitsch hat uns vorgeladen. Wir sollen achtzigtausend mitbringen. Schilling. Der Keller ist fertig. Eine Baufirma, von Grupitsch organisiert, hat ihn betoniert. Die Baustelle schaut chaotisch aus, aber der Keller macht einen gediegenen Eindruck. Im Innern steht noch der Wald an Eisenstützen für die Deckplatte. Die Südfront ist nicht betoniert. Sie ist aus Ziegeln. Der Keller ragt vorne vollständig aus dem schrägen Terrain, wie er nach hinten zur Gänze im Boden verschwindet. Grupitsch berichtet, dass der Baggerfahrer beim Graben verzweifelt war, weil der Boden so hart ist. Der Lehm ist hart wie Beton. Das Graben hat dreimal so lang gedauert wie üblich. Mir ist nicht klar, ob die Nachricht eine gute oder schlechte ist. Ich gehe von Ersterem aus, Soile von Letzterem. Wir übergeben Grupitsch das Kuvert mit den Achtzigtausend. Er steckt es ein ohne zu zählen, macht keine Anstalten, irgendeine Quittung auszufolgen. Ich muss verrückt sein, lasse es aber dabei bewenden. Der Handschlag muss reichen.
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Die internationale Schadenregulierung ist ein Nischenmarkt, trotzdem gibt es neben Avus und uns weitere Anbieter. In Wien ist die Interiura aufgepoppt. Die GesmbH ist eine Tochter der ARAG Rechtsschutzversicherung, von der sie deshalb im Wesentlichen lebt. Die ARAG wiederum ist eng verbandelt mit der Bundesländer Versicherung. Dort lernen wir einen der Schadenleiter kennen. Neuhofer ist ein Piefke, der uns hin und wieder beauftragt. Später wird er im Unfrieden die Bundesländer verlassen und eine ganze Weile beruflich untätig bleiben. In dieser Zeit werden wir gemeinsam nachdenken, auf welche Weise er bei uns andocken könnte. Schließlich wird er als Geschäftsführer bei der Interiura landen. In der Folge werden wir etliche Fälle für die Interiura bearbeiten, wenn es um Konstellationen geht, wo die Interiura weniger zuhause ist.
In Barcelona ist Juan A. Calzado etabliert, ein Familienbetrieb stolzer Spanier, der für alle Mitbewerber die erste Adresse ist, wenn es um Spanien und Portugal geht, so natürlich auch für Avus und für uns. Das Problem ist, die sind in der Kostenfrage nicht flexibel. Trotzdem sind wir froh, Calzado zu haben, weil wir durch ihn wenigstens unsere Auftraggeber zufriedenstellen können, wenn auch letztlich nichts für uns übrigbleibt. In unsere Rivolto-Zeit ist ein rundes Jubiläum von Calzado gefallen, aus dessen Anlass sie alle Partner nach Barcelona eingeladen haben. Wir sind damals von Trieste nach Barcelona geflogen. Am ersten Tag haben wir auf eigene Faust die Hauptstadt Kataloniens hauptsächlich zu Fuß durchstreift. Tags darauf hat Calzado die vielen Jubiläumsgäste in mehreren Bussen nach Montserrat verfrachtet. An diesem Tag sind Amfortas und Parsifal dort wirklich anwesend gewesen. Weil Amfortas‘ Leiden und Parsifals Torheit feste Bestandteile bilden in der Mixtur, aus der ich bestehe. Calzado haben uns dann noch in eine Sektkellerei geführt und am Abend ein rauschendes Paella-Fest gegeben.
In Paris befand sich die Zentrale von Van Ameyde. Heute würde man das weitverbreitete Unternehmen wohl als Havariekommissariat bezeichnen. Seltsamerweise haben die eine Geschichte, die jener der Avus ähnelt. Van Ameyde war ein Holländer, der sich am Ende des Krieges auf die Begutachtung von Schäden an Militärfahrzeugen spezialisierte. Davon ausgehend erweiterte sich der Tätigkeitsbereich bald auf die Regulierung der Schäden. Das Unternehmen wurde für Investoren aus Frankreich interessant und transferierte seinen Sitz nach Paris. Im Streben nach Erweiterung haben sie gerade einen Standort in Milano gegründet. Der Direktor, dott. Vellucci (dott. in Ermangelung eines wirklichen Titels), ist wohl bei der Betrachtung des italienischen Marktes auf Rivolto Claims gestoßen, das durch seine Betreiber aus Finnland und Österreich interessant erschienen sein mochte, wenigstens erstaunlich. Vielleicht ergäbe sich ja für Van Ameyde die Möglichkeit der Expansion nach Österreich, direkt in die Höhle des Löwen, in Avus‘ Mutterland? Eines Tages ruft Vellucci mich an. Er würde sich über eine Begegnung freuen. Bis nach Rivolto möchte er nicht kommen. Lovetti habe ihm davon abgeraten, haha, haha. Am liebsten hätte ich aufgelegt. Doch eine Allianz mit Van Ameyde könnte doch weitreichende Vorteile für uns bieten, vor allem wirtschaftliche Sicherheit.
Ich treffe Vellucci in Torino. Vorher habe ich da bei der Toro und bei der Reale Mutua zu tun. Mein Besuchstermin ist mit der Liquidatrice der Toro vereinbart. Ich betrete den Empfangsbereich des Bürogebäudes, melde mich beim Portier an. Er telefoniert mit der Liquidatrice, verlangt dann meinen Ausweis. Ärger steigt in mir auf. Wenn die Sachbearbeiterin den Termin mit mir bestätigt hat, wozu brauchen sie noch meinen Ausweis? Schaue ich aus wie ein Terrorist? Ich zeige dem Portier meinen Pass, weigere mich aber, ihn aus der Hand zu geben. Der Portier ruft neuerlich die Liquidatrice an. Ich verlange selber mit ihr zu sprechen. Es tue ihr leid, sagt sie, die strenge Hausordnung sei von der Direktion vorgegeben. Ich verzichte auf diesen Besprechungstermin und verschwinde. Als ich zur Reale Mutua komme, wundere ich mich über die mit Packpapier zugeklebte Glasscheibe neben dem Eingang. Ich melde mich an bei der Empfangsdame an. Sie telefoniert mit der Liquidatrice, beschreibt mir dann den Weg zu ihrem Büro. Bevor wir unsere Akte behandeln, plaudere ich mit ihr über mein Erlebnis bei der Toro. Sie meint, es könne nicht lange dauern, bis auch hier strengere Besucherregeln verordnet werden. Erst gestern ist ein erzürnter Kunde ausgerastet und hat das halbe Haus demoliert. Ob ich den verwüsteten Eingang gesehen habe. Die Polizei hat eine halbe Stunde gebraucht, bevor sie den Tobenden abführen konnten.
Vellucci ist an die sechzig, klein und mager, voller Sorgenfalten wie sein abgetragener Straßenanzug, billige Krawatte. Bei einem Toast in einem Café fragt er mich aus, was für Zukunftspläne wir haben. Ich verhehle nicht, dass wir gerade den ersten Korrespondenzvertrag für Italien abgeschlossen haben und beabsichtigen, diesen Weg zügig fortzusetzen. Österreich hätten wir auch schon auf dem Radar. In Hohenthurn bauen wir gerade die Basis auf. Vellucci zeigt sich beeindruckt. VanAm hat für Italien noch keinen Vertrag. Er palavert über die Erweiterungspläne der VanAm. Ob wir uns eine Zusammenarbeit vorstellen können und in welcher Form. Seiner Ansicht nach sollten wir nach Wien gehen. Geld spiele keine Rolle. Wir könnten so eine Art Franchisenehmer werden. Natürlich müssten wir als Van Ameyde auftreten. Wir sollen uns das in Ruhe überlegen. Wenn wir nicht grundsätzlich dagegen seien, was er sich nicht vorstellen könne, wenn man unser mickriges Ruderboot mit dem Kreuzer vergleicht, auf dessen Bug Van Ameyde steht, dann würde er uns mit den beiden Direktoren aus Paris in Rivolto und Hohenthurn besuchen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass von dem Kreuzer schon die eine oder andere Kanone auf unser Ruderboot gerichtet ist.
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Wenn ich an die schöne Blumenwiese denke, die einmal hier lag, fange ich an mich zu schämen. Wir sind schuld, dass sie zerstört ist. Statt Margeriten, Klee und Johanneskraut wachsen jetzt riesige Erdhaufen in den Himmel. Baumaterial liegt wüst umher, Latten und Pfosten, eiserne Gerüstteile. In ihrer Mitte gewinnt das Holzgerippe des Hauses an Gestalt. Wann immer wir sporadisch an die Baustelle kommen, tagsüber, es ist kein Arbeiter zu sehen. Nachts könnten wir sie antreffen. Grupitsch hat hier eine Mondscheinbaustelle eingerichtet. Wenn ich daran denke, was für Haftungen einen Bauherrn treffen können, wird mir schwummerlich. Oder wenn der Grupitsch plötzlich verschwindet. Mit dem Geld, das wir in immer größeren Raten mitbringen und das er einsteckt ohne Beleg.
Eines Tages, als wir um die steile Abzweigung des Richterwegs kurven, entfährt mir die trockene Bemerkung „Da steht a Haus.“ Wir wussten ja, dass es demnächst passieren würde. Hatte uns Grupitsch doch beim letzten Mal noch eingeredet, den Kniestock, der im Plan mit vierzig Zentimeter vorgesehen war, zu erhöhen auf mindestens achtzig Zentimeter. Das Obergeschoß würde sonst um die Hälfte kleiner bleiben. „Aber wissen S‘ eh,“ hatte Grupitsch gewarnt, „kost zusätzliche Achtzigtausend.“ Zweitausend pro Zentimeter also. Trotzdem sind wir Grupitsch für diesen Rat dankbar. Schon mit achtzig Zentimeter Kniestock schaffen die schrägen Wände der Mansarde es immer wieder, uns eins über die Rübe zu ziehen. Mit dem Vierzig-Zentimeter-Kniestock könnten wir das Obergeschoß nur mit Sturzhelm betreten. Und jetzt steht da ein Haus mit Achtzigtausendmondscheinkniestock. Äußerlich erscheint es fast fertig. Am Unter- und Mittelgeschoß fehlt noch der Oberputz. Darüber ist alles Holz, hellbraun gefärbt, auch Fenster und Türen. Das Dach aus dunkelroten Ziegeln liegt wie eine fürsorgliche Haube über dem Gebäude. Innen sind die Wände aus Gipsplatten montiert. Wasserverrohrung und Elektroverdrahtung sind fertig. Für die elektrische Anlage haben wir eine Firma in Arnoldstein beauftragt. Die KELAG musste ein Erdkabel verlegen. Damit die Distanz etwas geringer gehalten werden konnte, verläuft es ein Stück über den Grund der Familie Strasser. Sie haben dem bereitwillig zugestimmt und ohne dafür etwas zu verlangen. Alle Fußböden fehlen noch. Grupitsch hat deshalb die Türstöcke so gekürzt, dass die Böden noch daruntergezogen werden können. Wenn die Stiege vom Mittel- ins Obergeschoß eingebaut sein wird, kann man davon ausgehen, dass die Leistungen der Firma Pleschko erledigt sind. Wir geben Pleschko das Geld für die hübsch geformte Lärchentreppe, die wir aus einem Katalog ausgesucht haben.
Um die Fertigstellung im Innern wird Grupitsch sich kümmern. Er hat es versprochen. Wir entscheiden uns für quadratisch gemusterte Parkettböden aus Esche, wie sie sehr häufig vorzufinden sind. In die Feuchträume kommen Fliesen. In der Wahl der Ausstattung meiden wir Extravaganz, suchen gediegene Qualität, soweit sie vom unteren Preissegment nicht allzu weit entfernt ist. Das Parkett und die Fliesen legt Grupitsch höchstpersönlich. Sogar am helllichten Tag. Wir überraschen ihn eines Tages dabei. Trotz Überraschung hat er die Geistesgegenwart, gleich wieder Geld zu verlangen. Ich vermute, er dürfte eine Manie haben. Eine Marie-Manie sozusagen. Wie immer steckt er die Scheine ungezählt ein.
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Der Floh in meinem Ohr, der Vellucci heißt, beißt gewaltig. Van Ameyde in Wien zu sein, würde es nicht gewichtige Existenzprobleme von uns nehmen? Wäre es nicht Genugtuung, Avus eine ernstzunehmende Konkurrenzorganisation ganz dicht vor die Nase zu setzen, einen bedrohlichen Kreuzer, nicht nur so ein Ruderboot, das ab und zu ein bisschen ärgert? Wieder nahe der Mutter, den alten Freunden? Soile nicht so isoliert im Arbeitskloster eines klimperkleinen Provinzdorfs, wieder näher am gewohnten zivilisierten Leben? Hat Wien nicht eigens für uns in den letzten Jahrzehnten sich aus dunklem Nebelgrau zu bunter Lebendigkeit gemausert? Das unglaubliche Musikgeschehen? Brahms und Mahler wieder nicht nur aus der Konserve, sondern im Musikverein? Eros, der zarte Zahnarzt? – Andererseits, alles bis ins Detail von VanAm vorgegeben bekommen? Ein Produktionssoll erfüllen müssen? Die pfeifen, wir tanzen? Ein Pfiff und ab nach Paris, ein Wimpernzucken vom Monsieur le Directeur und gegen die eigene Überzeugung den größten Blödsinn ausführen müssen? Werden die Directeurs meinen Widerspruchsgeist vertragen? Wo bleibt die frische Luft der Freiheit? Okay, wir strudeln uns ab, aber wir tun es für uns selbst, nicht für einen Konzern. Schön, dass Soile es auch so sieht. Plötzlich vergleichen wir alles, was wir machen, damit, wie es für uns aussehen würde als Lakaien der Directeurs, und alles bestärkt uns in unserem Entschluss, Claims zu bleiben.
Dumm nur, dass plötzlich Vellucci wieder anruft und seinen Besuch in Rivolto ankündigt, mit den beiden Chefs aus Paris. Eine glatte Vorwegnahme unserer Entscheidung. Vor den Kopf stoßen wollen wir die mächtigen Konkurrenten aber auch nicht, also werden wir ihnen den roten Teppich ausrollen. Beide Franzosen entsteigen in der Via Gatteri Velluccis Lancia, beide aus dem Fond. Die französischen Herren machen äußerlich einen legeren Eindruck. Sie tragen farbiges Business Casual ohne Krawatte. Velluccis Anzug und Krawatte sind wahrscheinlich dieselben, die ich aus Torino kenne. Er schleppt eine sehr dicke Aktentasche. Wozu, frage ich mich. Die Tasche muss dem einen Boss gehören, denn der gibt Vellucci Anweisungen, wo er sie abstellen soll. Soile bietet eine Erfrischung an. Unser Französisch ist ziemlich mangelhaft, Velluccis ist nicht besser. Wir helfen einander gegenseitig aus. Die Monsieurs schauen sich in unserem Büro um und lassen sich unsere Erfolgsgeschichte erzählen. Soile kann gerade noch verhindern, dass Ugolino den einen Franzosen von hinten anspringt. Man wundert sich über die Schadennummern auf unseren Aktendeckeln. I‑941221 Rossi. Sie vermuten, das sei aus 1994 der 1221ste Schaden. Schön wär’s. Nein, das ist der Schadenfall unseres Kunden namens Rossi, der sich in Italien (daher das I-) am 21.12.1994 ereignet hat. Vellucci greift sich eine Akte, auf der er ein F-… entdeckt hat. „Ah, Francia“, erkennt er. „Posso vedere?“ Er öffnet die Akte und schaut sich den Inhalt an. „Da wird aber nicht viel drin sein für den Fritz“, konstatiert er mitleidig. (Der berühmte Fritz!) „Konträre Aussagen von beiden Lenkern, keine Zeugen, keine Beweise, Hergang aus den Beschädigungen nicht ableitbar, fünfzig Prozent, massimo.“ Ich lächle Vellucci an. Die Situation genießend weise ich darauf hin, dass wir in Frankreich sind und erkläre in einem Mischmasch aus Italienisch und Französisch, dass es in Frankreich eine spezielle Judikatur gibt, nach der in gewissen Fällen beiden Parteien je hundert Prozent zugesprochen werden können. Für unsere Begriffe ist das eine Absurdität, aber eine erfreuliche. Der eine Monsieur le Directeur nickt bestätigend, während ich rede.
Rasch wechselt Vellucci das Thema. Es wird Zeit sich auf den Weg zu machen, schlägt er vor. Sie wollen jedenfalls auch das kommende österreichische Büro anschauen. Vielleicht glauben sie, das ist gleich um die Ecke, aber mir soll’s recht sein. „Vergessen Sie nicht meine Tasche“, ermahnt der Boss Vellucci. Die beiden Directeurs nehmen wieder im Fond des Lancia Platz, Vellucci trägt ihnen die dicke Aktentasche nach, verstaut sie im Kofferraum und begibt sich an den Arbeitsplatz des Chauffeurs. Soile und ich steigen in den Croma. Spaßhalber halte ich Soile die Fondtür auf. „Bist du übergeschnappt?“ zischt sie und steigt vorne ein. Ich bin froh, dass die Kiste problemlos anspringt. Das hat sie in letzter Zeit nicht immer getan. Im Spiegel sehe ich den Lancia, der uns folgt. Aus Gewohnheit nehme ich nicht den Weg über Udine und die Autobahn hinauf, sondern den schöneren, den Tagliamento entlang nach San Daniele und Osoppo. Es geht über schmale und kurvenreiche Landstraßen durch kleine Ortschaften. In meinem üblichen Fahrstil ginge das genauso schnell wie über die Autobahn. Aber mit Vellucci im Schlepptau, der auf seine beiden Direktoren Rücksicht nehmen muss, dauert es länger. In Osoppo erreichen wir die Autobahn und folgen ihr Richtung Grenze. Schade, dass ich den VanAm-Bossen nicht das Haus dort drüben am Berghang mit der vom Balkon flatternden Wäsche zeigen kann. Wenig später biegen wir ein nach Hohenthurn und in den Richterweg. Bis die Gemeinde den asphaltieren wird, wird es noch eine schöne Weile dauern. Jetzt glänzen auf der kotigen Sandstraße zahlreiche große Pfützen vom letzten Regen. Es ist unmöglich, allen auszuweichen. Im Rückspiegel sehe ich, dass Vellucci es verzweifelt versucht. Trotzdem schaut sein schöner Lancia aus wie am Ende einer Finnland-Rallye, als wir vor der Baustelle halten. Velluccis und der Monsieurs Directeurs Mienen bringen Hilflosigkeit zum Ausdruck. Bei einer Mondlandung würden sie nicht anders dreinschauen. Wir suchen uns einen Weg zum Gebäude an den Erdhaufen vorbei, darauf bedacht, möglichst wenig in den Morast einzusinken. Passierte das, würde der Schuh bestimmt nicht mehr herauskommen. Es wundert mich, dass die Bosse mit ihren stylishen Fußbekleidungen die Kletterei mitmachen. Aus geringer Entfernung von der angrenzenden Weide her glotzen einige Rinder uns fremde Eindringlinge an. Aus dem benachbarten Obstgarten hört man verzweifeltes, herzzerreißendes Eselsgejammere. Oder ist es Gelächter? Endlich stehen wir in den unfertigen Büroräumen von Claims Service International. Ich spüre genau die missbilligenden Gedanken der beiden Pariser Manager, nicht nur was uns anlangt, sondern auch Vellucci gegenüber, der sie unnötig in diese unglaubliche Lage manövriert hat. Ich spüre ihren Degout, aber das macht mich nur selbstbewusster, sicherer im Entschluss nicht nach Wien zu gehen, nicht Chauffeur und Taschenträger irgendeines Monsieur le Directeurs zu werden, sondern hier auf der grünen Wiese zwischen Kühen, Eseln, Hunden und Katzen und Habichten selbst zu bestimmen, was bei Claims Service International passiert.
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Bis zuletzt habe ich befürchtet, Grupitsch würde eines Tages mit dem Geld verschwinden. Tatsächlich ist Pleschko inzwischen insolvent geworden, aber das tangiert uns nur für den Fall, dass irgendwelche Gewährleistungsansprüche geltend zu machen wären. Die vereinbarten Leistungen sind ja erbracht worden. Vermutlich trifft es sich für Grupitsch gut, dass er jetzt für uns pfuschen kann. Der Winter naht, mit ihm der angepeilte Einzug. Wie es aussieht, dürfte der Termin halten. Nachdem die Böden gelegt sind, baut der Elektiker aus Arnoldstein eine Nachtstromspeicherheizung ein. Damals in der Alserstraße habe ich mit dem System gute Erfahrungen gemacht. Wir müssen davon ausgehen, dass wir des Öfteren für längere Zeit abwesend sein werden. Alle anderen Heizungssysteme verlangen Anwesenheit oder wenigstens Bereitschaft zum Eingreifen.
Ein weiteres Mal machen wir die Möbelgeschäfte unsicher, diesmal in Tricesimo. Wir vereinbaren mit De Zotti die Zustellung eines klassischen massiven Schlafzimmers in Nuss nach Hohenthurn und einer grünen Einbauküche samt Elektrogeräte. Aus Codroipo kommt das Bad mit Flächen aus Carraramarmor in Grau und Rosa. Der Lieferant bringt kulanter Weise auch unser Speisezimmer aus Rivolto mit. Wenn wir dort noch Hunger haben, bleibt immer noch unser kleiner Küchentisch aus Graz. Unser Gästeschlafzimmer aus Rivolto reist auch nach Hohenthurn, so wie die Polsterfauteuils für den Mittagsschlaf im Büro. Das Schönste an der halben Umsiedlung ist, dass wir uns um keine Zollformalitäten kümmern müssen. Keine Zollbeamtin muss ihr Leben lassen. Die Sachen werden über die Grenze gefahren, einfach so. Kein Mensch und kein Beamter interessiert sich dafür. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich einen solchen himmlischen Zustand noch für einen phantastischen Traum gehalten. Es ist dem Beitritt Österreichs zur EU, damals noch EG, Anfang des Jahres zu danken. Freier Warenverkehr. Das hab ich wieder gut gemacht, voriges Jahr im Juni, als ich mit Soile durch Maria Gail spazierte zur Schule, wo sich das Wahllokal für die Volksabstimmung befand. Für mich war es eine Selbstverständlichkeit, das Ja anzukreuzen. Soile durfte nicht, mangels österreichischer Staatsbürgerschaft. Das passiert nicht oft, dass ich bei einer Wahl der Mehrheit angehöre. Zwei Drittel der Wähler haben dem Beitritt zugestimmt. Finnland ist dann gleichzeitig mit Österreich und Schweden beigetreten.
Die EG-Mitgliedschaft erleichtert sogar die Ausstattung des Hauses mit Vorhängen. Verwünschungen wie seinerzeit von Mamma an der Brennergrenze haben sich erübrigt. Kein Zollbeamter will in unsere Koffer schauen. Wir finden eine Dame in Tarvisio, die die Vorhänge nach unseren Vorstellungen näht und bei uns montiert. Dienstleistungsfreigeit. Und doch gibt es heute solche Tonttus, die am liebsten aus der EU austreten würden, obwohl ich ungefragt Möbel über Grenzen hin- und herschieben, Vorhänge, genäht oder ungenäht, ohne schlechtes Gewissen aus- und einführen kann, meine Dienstleistungen im Bereich der EG ausüben und das damit verdiente Geld mitnehmen darf. Die Tonttus sind die Nachkommen jenes Rübezahls, der so lange die Gedärme der Menschen, seinen liebsten Aufenthaltsort, mit Hass und Angst vor der EG und generell allem Nichtösterreichischen infiziert hat (obwohl er die österreichische Nation für eine ideologische Missgeburt hielt), bis deren Därme es nicht mehr schafften, den ganzen Hass und die ganze Angst abzuführen, bis Hass und Angst hinaufstiegen in die Mägen der Menschen und die Mägen gründlich verdarb und das Gift als Reflux die Stimmen der Menschen verbrannte. Dann gaben die Menschen ihre Stimmen dem Rübezahl, der versprach, sie vor den Übeln zu schützen, die sie so belästigten, und die doch von diesem Rübezahl selbst stammten. Noch erlag nur ein Teil der Menschen diesem diabolischen Kreislauf, jeder Fünfte war angesteckt zu Rübezahls Zeiten. Sogar jeder Vierte, nachdem der Rübezahl umgekommen war, durch eigene Dummheit. Sogar jeder Dritte in Kärnten, da war der Rübezahl Chef gewesen. Für die Tonttus war die Sonne vom Himmel gefallen. Und sie geben nicht auf. Das Vergiften geht weiter. Schon verlieren die Darmfloren ihre Empfindlichkeit. Die Widerstandskraft nimmt ab. Auch weil mittlerweile an vielen Ecken der Welt Rübezahle und Tonttus fleißig am Werk sind.
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Ein Bagger modelliert die Mondlandschaft rund ums Haus in anmutigere Formen. Die großen Haufen vom Aushub sind weg. Einen davon, den fetten Humus könnte man als Deckschicht gut gebrauchen, aber der ist auch weg. Entweder hat Grupitsch ihn verscherbelt oder sonst jemand hat gefunden, er sei bei ihm besser aufgehoben. Das Gelände ums Haus, abgesehen vom unberührten Hang darüber, besteht aus einem Gemisch von Lehm, Steinen aller Größen und Abfall von Baumaterial. Pflanzen werden es hier einmal nicht leicht haben. Im Moment aber gibt es ohnehin keine. Das Grundstück ist nackt wie die Wüste. Der Gehweg durch den Hang zum Haus ist grob geschottert, ebenso wie die Terrassenflächen vor dem Untergeschoß und weiter oben vor dem Obergeschoß. Neben dem Haus die Stiege hinauf zum Haupteingang ist grob betoniert. Hier überall wird noch viel zu tun sein im Lauf der Zeit. Hinter dem Haus besteht auf Niveau des Obergeschoßes ein schmaler Durchlass zwischen dem Gebäude und dem Steilhang. Es stellt sich die Frage, ob man den Hang durch eine Stützmauer befestigen müsse. Aber der Lehmboden ist dermaßen massiv, dass wir auf diese teure Maßnahme verzichten. Wie mutig diese Entscheidung ist, sehen wir, als wir einmal ein Stück vom nordöstlichen Teil des Hangs gegen das Haus abgerutscht vorfinden. Es ist aber nicht mehr als ein Kubikmeter. Der Rest des Hangs scheint felsenfest zu halten.
Die Möbelfirmen aus Italien liefern und montieren, der Elektriker aus Arnoldstein baut die Heizung ein und wir treffen noch einmal Grupitsch zu einer letzten Geldübergabe. Kurz danach wird er mit seinem Auto auf einem unbeschrankten Bahnübergang gegen einen Zug krachen, dabei aber im Wesentlichen gottseidank unverletzt bleiben. Wir, das heißt Soile mit dem Uno, ich mit dem Croma und Mama mit ihrem Uno, fahren einige Male zwischen Rivolto und Hohenthurn hin und her, um den umfangreichen kleineren Hausrat zu übersiedeln. Ich zerlege die Bürotische für den Transport. Mama besteht darauf, die Satellitenschüssel in Rivolto abzumontieren und ebenfalls nach Hohenthurn zu bringen. Besonders die Unos mit den umgelegten Sitzen schlucken enorm viel Gerümpel. Aber die großen Schreibtischplatten kann man nur mit offener Hecktür befördern. Das meiste ist abgenutzt, stammt noch entweder aus Götzendorf oder aus Graz, die vielen Transporte Pordenone, Aviano, Rivolto, die Lagerungen in der Spedition in Graz, im Keller des Hotels Minerva, in der Garage in Aviano, im Schuppen von Rivolto. Dreimal umgezogen ist einmal abgehaust. Soviel Trödel wir auch heranschaffen, das Haus zeigt immer noch Hunger nach mehr.
Mit Abstand der wertvollste Trödel, allerdings auch schon etwas abgenützt, ist Ugolino. Er reist in einer Schachtel im Fußraum des Croma unter Soiles Beinen. Bei dieser Fahrt ist Soile mit mir. Ugolino liebt Schachteln wie ein Herzog seine Burgen. Wir hoffen inständig, dass Ugolino in seiner Burg bleiben wird, wenn wir die Grenze passieren. Der freie Personenverkehr bezieht sich nicht auf Tiere. Die dürfen nur mit gültigem Impfpass über die Grenze, jedenfalls dort, wo kontrolliert wird. Über die grüne Grenze gehen täglich viele Tausende Tiere, das kümmert niemanden. Schengen ist noch in weiter Ferne. Trotz der Grundfreiheiten der EG werden die Grenzen kontrolliert. Nicht auszudenken, wenn Ugolino im Auto herumspringt, während wir unsere Pässe zeigen. Dazu müssen wir den Grenzbeamten schon allein dadurch aufgefallen sein, dass wir in den vergangenen Stunden x-mal mit verschiedenen Autos über die Grenze gefahren sind, jedes Mal vollgestopft mit Zeugs. Und jetzt mit dem Croma mit italienischem Kennzeichen, einem österreichischen Pass und einem finnischen. Schon sieht es so aus, als wollte uns der Grenzbeamte durchwinken, da bemerkt er im letzten Augenblick, dass ich keine italienischen Papiere aus dem Fenster zeige, und hält uns an. Eingehend studiert er unsere Pässe. Ich muss erklären, wieso ich ein italienisches Kennzeichen habe, dass wir am Übersiedeln sind. Dabei höre ich deutlich, wie Ugolino in seiner Schachtel zu kratzen beginnt. Der Beamte schaut ins Auto. Soile tut so, als würde sie an der Schachtel kratzen. Endlich wieder Österreich, sage ich. Das gefällt dem Beamten und er gibt uns die Pässe zurück. So haben wir einen illegalen Grenzübertritt begünstigt.
Zwei Wochen vor Mamas und Soiles Geburtstagen, Mamas zweiundsiebzigstem, Soiles fünfzigstem an zwei aufeinanderfolgenden Tagen ist ausreichend Zeug im Haus um einzuziehen. Es sind nasskalte Novembertage. An einem von ihnen, einem Sonntag bleiben wir zum ersten Mal über Nacht in unserem neuen Heim. Schön, dass wir nur ein paar Schalter betätigen müssen, um es warm im Haus zu haben. Das also tue ich zuallererst. Es wird eine ganze Weile dauern, bis die Heizkörper Wärme aufnehmen. Hundemüde von den Strapazen des Siedelns sucht Soile ein paar Teller und Besteck aus den Schachteln, um das Abendessen vorzubereiten. Das Essen ist angerichtet, während die feuchte Kälte unter unsere Kleidung kriecht. Mama jammert, Rainer, es ist kalt! Ich schaue auf ein Thermometer: zehn Grad. Knapp. Ungeduldig befühlen wir die Öfen. Sie sind immer noch kalt wie zuvor. Ich überprüfe die Heizungsschalter und die Sicherungen, finde keinen Fehler. Ich schaue nach in den umfangreichen Gebrauchsanweisungen, doch sie geben mir keinen Hinweis. Einem Aufkleber an der Schaltanlage zufolge sollte der Nachtstrom auch zwischen 13 und 17 Uhr fließen. Na ja, die Jahreszahl wird nicht genannt. Das Steuergerät ist kompliziert. Wenn da etwas falsch eingestellt ist, werde ich das nicht beheben können. Ich versuche, die Elektrofirma telefonisch zu erreichen. Sonntagnachmittag. Keine Chance. Wir alle ziehen noch Extrapullover an und gehen mit ihnen in die feuchten Betten. Mama jammert, Rainer, es ist kalt! In dieser ersten Nacht mit Soile im De Zotti-Bett bemerken wir noch nicht, dass es ein bisschen enger ist als gewohnt. Später werden wir De Zotti noch oft dafür verfluchen. Die Jahre bleiben nicht stehen. Nähe im Bett ist nicht mehr so alltäglich. Doch in dieser kalten Nacht ist uns kein Bett zu eng.
Montag Früh haben die Heizkörper Temperatur. Allerdings genau dieselbe wie am Sonntag. Umgebungstemperatur. Zehn Grad. Mama jammert, Rainer es ist so kalt! Soiles Hände fühlen sich an, als wären sie über Nacht im Gefrierschrank gelegen. Ich rufe den Elektriker an. Wenigstens kommt er gleich. Er geht zum Schaltkasten, leuchtet mit der Taschenlampe hinein. Aha! Ein paar Handgriffe, und er verspricht, jetzt geht’s. Ein Kabel war aus Versehen falsch angeschlossen.
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Auf der üblichen vorweihnachtlichen Ochsentour durch die Schadenabteilungen der Wiener Versicherungen trafen wir Cizek, diesmal im renommierten Steirereck. Natürlich haute ich mit dem Fennia-Vertrag auf die Pauke. Cizek nahm es kommentarlos zur Kenntnis. Ich bedauerte, dass der Versicherungsverband in Österreich keine Privatunternehmen für Korrespondenzverträge mit ausländischen Versicherern zulässt. EG hin, EG her, der Verband bestand nach wie vor auf die Haftungsübernahme durch eine Deckungsgesellschaft. Hm, sagte Cizek, und ich wusste nicht, ob das sein Kommentar zum Thema war oder zum Genuss des Rehbratens. Dann redeten wir wieder über Fußball. Die Politik gab auch einiges her. Der neue ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel hatte Kanzler Franz Vranitzky die Koalition aufgekündigt. Ich mochte Schüssel. Er war meinen ehemaligen Mitschülern sehr ähnlich in Ausdrucksweise und Gehaben. Was er sagte, missfiel mir auch nicht. Noch waren die Konservativen nicht so weit nach rechts gerückt wie später, als sie sich von den Populisten kaum mehr unterschieden. Die Sozialdemokratie litt an ihrem Bonzentum, nicht zuletzt von den mächtigen Gewerkschaften her. Schüssel schien, solange die Politik ihn nicht grantig gemacht hatte, wie vor ihm Kreisky, frischen Wind in den Muff zu bringen. Noch vor Weihnachten rief Cizek mich an. Die Wiener Allianz wäre bereit, als Deckungsgesellschaft für uns zu fungieren. Die Gegenleistung? Die Fortsetzung unserer gediegenen Leistungen für die Allianz. Ich war platt. Das hätte ich nicht erwartet. Ich hatte bei Cizek immer etwas wie Vorbehalte gegen uns zu spüren geglaubt.
Die Möglichkeit, Grüne-Karte-Schäden jetzt auch in Österreich regulieren zu können, war ein Dammbruch. Plötzlich war das kleine Rivolto Claims Service zu eng, zu lokal geworden, zu beschränkt, um der nun ausgedehnten Internationalität zu entsprechen. Wir entschlossen uns zur Gründung eines österreichischen Claims Service International mit Filiale in Udine und dachten dabei bereits an die Ausweitung auf Finnland.
Dazu kam, dass die fiskalische Lage in Italien immer unberechenbarer wurde. Schon lange drohte die Einführung einer ‚Tassa Minima‘ (auch Minimum Tax – Mindeststeuer) für Selbständige. Die Steuerschuld sollte nicht mehr nach dem tatsächlichen Einkommen bemessen werden, sondern nach einem von der Behörde festgesetzten fiktiven Einkommen. Diese neue Einkommensteuer wäre von uns beiden zu entrichten gewesen und hätte damit sogar unseren gesamten Umsatz überstiegen. Damit versuchte der Staat, die bei Selbständigen vermutete Steuerhinterziehung, auch kreative Steuererklärung genannt, zu unterbinden. Das diesbezügliche ‚Decreto Legge‘ (Gesetzesdekret) war bereits 1992 erlassen. Sein Inkrafttreten wurde immer wieder verzögert, da die Interessenvertretungen der diversen Selbständigengruppen erbitterten Widerstand leisteten. Aber auch ohne Minimum Tax blieben die Ergebnisse frustrierend. Immer, wenn der Jahresabschluss nach Abgaben einen kleinen Gewinn auswies, kam kurz danach die Parcella (Rechnung) von Di Fazio, deren Endsumme sich ziemlich genau mit diesem Gewinn deckte. Es wunderte mich nicht, dass viele Selbständige ihre Betriebe stilllegten. Es lag also nahe, den Sitz unserer Firma nach Österreich zu verlegen.
Wie schon in Udine verlief die Anmeldung des Gewerbes in Villach nicht problemlos. Die zuständige Magistratsabteilung wurde von einem blinden Beamten operativ gedeichselt. Nein, ich möchte ihn damit nicht abqualifizieren. Er sah wirklich nicht. Unsere Tätigkeit war am ehesten dem Gewerbe der ‚Versicherungsberater‘ zuzuordnen. Deren Revier ging über die reine Schadenabwicklung hinaus, ja lag eigentlich hauptsächlich ganz wo anders, nämlich in der Beratung der Kunden über den für sie geeignetsten und günstigsten Versicherungsvertrag. Ihre Unterstützung im Schadenfall beschränkte sich in der Regel auf die Abwicklung eines Schadens, auf den sich diese von ihm empfohlene Polizze bezog. Solche Beratungstätigkeit setzte natürlich profunde Kenntnisse des Versicherungsvertragsrechts und des heimischen Marktes voraus, nicht hingegen die weitläufigen Sektoren der nationalen und internationalen Schadenersatznormen, die wiederum unsere Domäne waren. Um die Beratungsqualität zu gewährleisten, war das Gewerbe Versicherungsberater an eine Prüfung gebunden, die am Ende eines mehrjährigen Lehrgangs stand, dessen Themen unser Geschäftsmodell kaum berührten. Wie man es auch aufzäumen wollte, das Pferd lahmte.
Ich konfrontierte den Magistratsbeamten mit der Frage, auf welcher Basis Avus in Österreich seine Tätigkeit ausüben konnte. Von einem Gewerbeschein für Versicherungsberater hatte ich dort nie gehört. Ich glaube, Pscheidl hatte einfach damit angefangen und niemand hatte Fragen gestellt, damals, noch während der Besatzungszeit. Darüber wollte sich mein blinder Gewerbeexperte keine Gedanken machen. Graz war nicht Villach. Und Kärnten durfte nicht Steiermark werden. Ich fuhr also unverrichteter Dinge heim. In einer der nächsten schlaflosen Nächte kam mir die Idee, den Wortlaut eines individuellen Gewerbescheins zu basteln, der niet- und nagelfest auf uns zutraf. Zu für mich ungewohnter Stunde, um vier Uhr früh, saß ich nackt am PC und formulierte.
…Gewerbe des Versicherungsberaters, eingeschränkt auf die außergerichtliche Betreibung wechselseitiger Ansprüche zwischen in- und ausländischen natürlichen und juristischen Personen, in- und ausländischen Versicherern und deren gesetzlichen und vertraglichen Repräsentanten, sowie dem Verband der Versicherungsunternehmen Österreichs und dessen gesetzlichen und vertraglichen Repräsentanten aufgrund gesetzlicher und/oder vertraglicher Verpflichtungen…
Nachdem ich dem Beamten des Langen und des Breiten die Bedeutung des Textes anhand von Fallbeispielen erklärt hatte, blieb er dennoch unschlüssig. Kurz entschlossen rief er einen Bekannten an, wie ich zu verstehen glaubte, einen Rechtsanwalt, las ihm den Text vor und fragte ihn um seine Meinung. Der Blinde dürfte auch eine Hörbehinderung gehabt haben, denn sein Telefonhörer war so laut eingestellt, dass ich die Stimme des Anwalts hören konnte: „Was is denn das für a Topfn?“ Der Blinde las noch einmal. „Geh schick mir den Komiker da her. Er soll si an Termin ausmachn.“ Der Beamte schrieb mir Adresse und Telefonnummer auf. „Dr. Anton Gradischnig“, sagte er. „das ist der Präsident der Kärntner Anwaltskammer“.
Der Herr Präsident empfing mich in seinem Villacher Büro mit kühler Verbindlichkeit. Die Unfreundlichkeiten über mich behielt er für sich. Ich schilderte ihm, was wir jetzt schon machten und was wir noch zu tun beabsichtigten. Avus war ihm ein Begriff. Die Wiener Allianz als unsere Deckungsgesellschaft beeindruckte ihn. „Alles gut und schön“, sagte er, „aber Sie wissen schon, dass Sie das nicht dürfen, es sei denn Sie beschäftigen einen Rechtsanwalt.“
„Schauen Sie, Herr Präsident,“ entgegnete ich, „da steht das unscheinbare Wörtchen ‚außergerichtlich‘ ganz am Anfang. „Also außergerichtlich dürfen wir das, will mir scheinen. Und wo Anwaltspflicht besteht, beschäftigen wir selbstverständlich Ihre Kollegen. So gesehen leisten wir nützliche Vorarbeiten für sie.“ Im Grunde war es dieselbe Debatte wie seinerzeit bei der Wirtschaftskammer in Udine und dann bei den Carabinieri. Von der Voruntersuchung erwähnte ich lieber nichts.
„Mit welchem Kollegen haben Sie schon zusammengearbeitet?“ wollte er wissen.
„Dr. Caneppele, unter anderem“, antwortete ich wahrheitsgemäß. DDr. Giampaolo Caneppele dürfte italienische Wurzeln gehabt haben. Er war ein großgewachsener und schlanker Mann. Seine Kanzlei befand sich in der Postgasse in Villach, gleich neben der Hauptpost. Von den öffentlichen Telefonzellen in der Hauptpost aus pflegten wir bestimmte Telefonate zu führen. Da musste man nicht ständig Münzen nachwerfen, konnte die Telefonate am Ende am Schalter bezahlen. Soile wählte oft finnische Nummern. Caneppele war bekannt für seine Verbindungen nach Italien. Er war eine Art Geheimtipp für Fälle mit Italienbezug. So gesehen, war er eigentlich unser Konkurrent. Aber weder unsere noch Caneppeles Verbindungen waren allumfassend, sodass wir durchaus voneinander profitieren konnten. Einmal besprachen wir gerade etwas in seiner Kanzlei, als er dringend kurz wegmusste. Er hieß mich in seinem Büro vor seinem Schreibtisch warten, ein klarer Vertrauensbeweis. Er war noch nicht zurück, da läutete das Telefon. Seine Sekretärin war nicht da, oder hatte er keine? Da griff ich kurz entschlossen zum Hörer und meldete mich. „Kanzlei Dr. Caneppele, guten Tag, Richter am Apparat.“ Vielleicht sagte ich auch ‚Grüß Gott‘, wie in Österreich üblich. Ich bemühte mich aber schon damals, Gott aus dem Spiel zu lassen und mit ‚Guten Tag‘ zu grüßen. Heute, da ‚Grüß Gott‘ zu einem Ansteckabzeichen mindestens einer patriotischen Bewegung geworden ist, kommt es mir grundsätzlich nicht mehr über die Lippen. Die Anruferin erklärte gerade, was sie wollte, als Caneppele zurückkam. Ich übergab ihm das Gespräch. „Aber zahlen werd‘ ich Ihnen nix für die Mitarbeit“, stellte er klar.
„Wer hat Ihnen den Text fabriziert?“ fragte Gradischnig.
„Wieso? Trauen Sie mir das nicht zu?“
„Dem Caneppele eher net.“
Der Herr Präsident entließ mich mit einem wohlwollenden Lächeln und bot mir sogar an, ich dürfe mich an ihn wenden, falls es irgendwelche Probleme gäbe. Es gab aber keine. Der Gewerbeschein enthielt genau den Wortlaut, den ich vorgeschlagen hatte.
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Die Wirtschaftskammer in Klagenfurt half uns bei der Firmengründung. Die Büros in der Bahnhofstraße waren modern. In ihnen herrschte eine Atmosphäre wie bei Frau Stöckl von den Rosenheim Cops. Dies nur zur Beschreibung des Inventars und der Typen von Sekretärinnen und Sekretären. Die Rosenheim Cops gab es damals noch nicht. Die Sekretäre waren Typen wie die Kommissare, doch zusätzlich hatten sie etwas von Jungpolitikern. Mehr typischer Politfunktionär als Achtziger war der Büroleiter. Er interviewte uns, bevor er einer Sekretärin Anweisungen gab, wie sie mit uns zu verfahren hatte. Für die Errichtung einer Personengesellschaft zwischen Soile und mir hatten sie einen vorgedruckten Mustertext, den wir nach unseren Gegebenheiten adaptierten. Rasch unterschrieben und Soile und ich waren eine OEG. Der nächste Schritt hatte die Eintragung ins Firmenbuch zu sein. Die Sekretärin, die mit uns den Antrag ausfüllte, hätte Christin Lange bei den Cops darstellen können. Firmenname? Claims Service International. Sie schrieb Klein Service. Das übrigens kam in Österreich nicht selten vor. Soile beeinspruchte. Ich buchstabierte. Das Mädchen schrieb mit: Zesar Ludwig Anton… Neieiein! Alle im Großraumbüro anwesenden Sekretärinnen und Sekretäre schauten verstört zu uns herüber wegen meines Verzweiflungsschreis. Schreiben sie nur die Anfangsbuchstaben hintereinander: C wie Citrone. Mir fiel so schnell nichts Besseres ein anstelle von Cäsar. Sie schrieb Z. Man konnte ihr das eigentlich nicht verübeln. Soile bot sich an, den Firmennamen selber zu schreiben. Das half.
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„Siegfried Glantschnig hier, Londesgericht Klognfurt. San Se der Richter Rainer?“
„Der bin ich. Tag, Herr Glantschnig.“
„Griaß Gott. Sie hobn do a Fiamenbuacheintrogung beontrogt. Cläms Servis Internationaal. Dos geht net.“
„Wieso geht dos net?“ Ich versuche, durch die Mundart Nähe zu schaffen. Die Kärntner werden aber noch nach Jahren schon nach kurzem Gespräch feststellen, dass ich keiner bin.
„Ålso, Cläms Servis, dos dadat schon gehn. Åba Internationaal, dos geht net.“
„Jo mei, wieso denn geht dos net?“
„Internationaal kriagn bei uns de großn Konzerne, de was internationaal san.“
„Jo, oba internationaal haßt do net groß, sondern länderübergreifend.“
„Meglich, åba mit internationaal glabt der Konsument, dos is a Riesenkonzern. Und es sads a klawunzige OEG, netamol a GesmbH, es hobts ja netamol a Personaal. Då is ‚internationaal‘ irreführend.“
„Mir wolln internationaal haßn, weul jo des gråd der wesentliche Punkt is an unserer Oabeit. Unsere Claims san ålle grenzübaschreitend. Ana von de Beteuligten sitzt immer im Auslånd.“
„Wo san Se geburn? A so, jo, in Wien! Håb i ma lei gedocht. Und Senane Gsöllschofterin in – o Maria! – Uu-sii-kau-punki! Wos is denn dos? A Kaugummifabrik? A so, Finnlond. No servas. Aha, wegn dem – internationaal?“
„HörnS, Herr Glantschnig, Claims Service alan, da denkt man ån a Inkassobüro, was de Leit nåchrennt wegn de Ratn vom Fitness Studio. Mir san åba ka Inkassobüro. Mir beoabeitn internationale Schådnfälle. I fax Ihnen unsern Gewerbeschein durch, då steht genau drauf, wås mir måchn.“
„Net notwendig. Hob i ma schon beschofft von de Villacher. So an Gewerbeschein hob i a no net gsegn. Villacher, de Gspritztn. Könnan de net draufschreibn, für wos für a Gwerbe dos is? Mit so an Papierl konn ma jo ollas mochn, wos an einfollt. Und eingschrenkt a no. Der Gewerbeschein is eingschrenkt! Und dos soll internationaal sein? I gib Senan an guatn Rot: WonnS de Eintrogung båld wolln, nennan ma de Firma ‚Richta und Richta OEG‘. WosS donn hintn privat no dazuaschreibn, is uns wurscht.“
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Die Bauarbeiten waren im Wesentlichen abgeschlossen. Der Baustellenverkehr verebbte. Am Richterweg kehrte Ruhe ein. Dass irgendwo da draußen eine geschäftige Welt sein musste, ließ sich an den kurzen Unterbrechungen der Ruhe erkennen, wenn jemand am Ende der Sackgasse wenden musste, wenn der Müllwagen einmal in vierzehn Tagen die Tonne leerte. An Werktagen gab es zweimal täglich Fußgängerverkehr. Ein (kein unbestimmter Artikel, sondern Zahlwort!) Passant kam in der Früh und am Abend vorbei. In der Früh sahen wir ihn nicht. Er ging zu zeitig. Am späten Nachmittag kam er von der Bushaltestelle unten auf der Landesstraße auf dem Weg zum Oberort bei uns vorbei, denn er nahm die Abkürzung über die Sackgasse und dann quer über die Weiden. Früher mochte er den Fußpfad begangen haben, der diagonal über unsere beiden Grundstücke verlaufen war. Jetzt stand das Strasser-Haus auf dem östlichen Teil des Pfads und unseres auf dem westlichen. Wo keine Gebäude standen, konnte man den Pfad noch deutlich sehen. Er verlief schräg durch unsere Wiese hinan bis zu unserer Haustür. Jenseits des Hauses setzte er sich hinter unserer Terrasse fort. Wer weiß, ob der Wanderer uns und unser Haus nicht verfluchte, weil sein Abschneider jetzt etwas länger geworden ist. Ich spielte mit dem Gedanken, die Türen für ihn unversperrt zu lassen, damit könnte er einige Meter einsparen, indem er durch unser Vorzimmer und den Wohnraum wanderte. Vain kuolen rumini yli, protestierte Soile. (Nur über meine Leiche. Also, gemeint war ihre eigene.)
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Es war ein Tag in unserem Ruhekosmos, der anders war. Damals, gab es Stau am Richterweg. Zuerst war es nur ein Auto, das vor unserem Grund parkte. Es war zitronengelb. Der Fahrer saß am Steuer. Für uns war nicht ersichtlich, dass er irgendetwas tat. Außer, er saß. Nach einer Weile kam ein zweiter gelber Wagen. Ich dachte, das wird der Schwager sein. Der Volksstimme nach zu schließen, sitzen die meisten Schwager auf gelben Wagen. An diesen beiden prangte das Postemblem. Als der zweite Wagen ankam, stiegen beide Postschwager aus ihren Autos. In ihren grauen Overalls mit gelbem Postemblem bewegten sie sich über den Schotterweg in Richtung Betonstiege zum Obergeschoß. Ich eilte aus dem Büro und rief ihnen zu, hierher, bitte.
An diesem Tag sollten wir unser Telefon eingeleitet bekommen. In Erwartung eines bald umfangreicheren Kommunikationsbedarfs hatten wir zwei Rufnummern und eine kleine Telefonanlage bestellt. Mit einer einzigen Leitung war das nicht zu machen, hatte ich erfahren und zwei Leitungen waren uns zu teuer. Aber es gäbe da eine Möglichkeit, ließ man uns wissen. Die Post testete gerade das neue digitale ISDN-System (Integriertes Sprach- und Datennetz), welches die zweifache Verwendung einer Leitung ermöglichte. Als moderner Technik aufgeschlossener Nutzer schien es mir angezeigt, uns als Versuchskaninchen zur Verfügung zu stellen.
Die beiden Postler musterten das Büro und berieten unter sich, wo die Leitung am besten ins Haus geführt werden könnte. Sie entschieden sich für die Waschküche. Von dort aus müsste ein Loch zum Büro gebohrt werden. Von mir aus, willigte ich ein. Inzwischen fuhren zwei weitere gelbe Wagen vor. Um einander nicht den Weg zu versperren, wurden sie zum Teil in den Wiesen abgestellt. Das war schon ein anschaulicher Aufwand für einen Telefonanschluss, fanden wir. Auch diese beiden grauen Overalls bevölkerten bald unser Büro und die Waschküche. „De Häuptling sand no net do, eh klår“, stellte der zuletzt Angekommene fest. „Åber, wissts wås, fong ma oafoch on, oda wollts Koatn spüln?“ Aha, dachte ich, das Aufgebot soll noch größer werden. Die Kosten für den Telefonanschluss, die uns erschreckt hatten, erschlossen sich mir nun etwas besser. Postler 1 ging zu seinem Auto und kam mit einem kleinen Kästchen wieder, das in der Waschküche die Außenleitung aufnehmen sollte. Postler 2 holte aus seinem Wagen einen Schlagbohrer. Postler 3 kam mit einer Rolle Kabel herbei. Postler 4 besprach inzwischen mit mir, wo wir Anschlüsse für die Apparate wünschten. Ich zeigte ihm die Stellen für die Auslässe im ganzen Haus. Er zeichnete alles auf auf einem Schreibblock. Mit den fertigen Zeichnungen begrüßte er den ersten Häuptling, der inzwischen mit einem weiteren gelben Postauto eingetroffen war. Er hatte keinen Overall an, sondern arbeitstaugliches Zivil. Der Häuptling wunderte sich über die vielen Auslässe. „WissenS‘ eh, dass do a Haufn Moos zsaummkummt jedes Monat? Wås do einekummt, miassnS‘ ollas mietn.“ In der Tat konnte man alles, was die Post hier installierte, nur mieten, nicht kaufen. À la longue machte das sich für die Post bezahlt, sogar sehr gut. Trotzdem blieben wir bei unserem Konzept. War es nicht besser, einen Auslass zu viel zu haben, als später über meterlange Kabel zu stolpern? Miaratweign, sagte der Häuptling und schüttelte den Kopf.
„Servas, Gertsch“, begrüßte Häuptling 1 Häuptling 2, der eben zur Tür hereinkam. Damit wirkte unser Büro, das wir für geräumig gehalten hatten, schon ziemlich überfüllt. Sein gelber Wagen parkte unten am Weg bei den anderen. Es sah aus wie ein Schwarm Wespen. Jetzt surrte noch so eine gelbe Wespe daher und taumelte zwischen den anderen vorbei. Es war die Briefzustellerin. Eine gute Weile scherzte sie mit ihren Kollegen und diese mit ihr, bevor sie kundgab, heut hab i’s eulich, koa Zeit zum Ratschn. Ich fragte mich, wie lange sie geratscht hätten, hätte sie es nicht eilig gehabt. Häuptling 2 hatte einen Anzug an, offenbar der Oberbefehlshaber der Truppe. „ISDN nemman mir sehr ernst“, sagte er. „Do scheun mir kan Aufwond net.“
Langsam kam ich dahinter, dass Postler 1 für den Anschluss der Außenleitung an den Verteilerkasten im Ort zuständig war, Postler 2 für bauliche Maßnahmen im Haus (Loch bohren), Postler 3 für die Verkabelung zu den Auslässen, Postler 4 für den Anschluss der Endgeräte an die Steckdosen, Häuptling 1 für das Überprüfen des einwandfreien Funktionierens der Anlage und Häuptling 2 für die Übergabe und Bedienungsanleitung. Das Wespennest bestand bis zum späten Nachmittag, weil trotz der unzweifelhaften Professionalität der Techniker lange nach einem Fehler gesucht werden musste, der verhinderte, dass die Leitung Töne übertrug. Das war uns aber schon ziemlich wichtig. „Hat die Anlage keine Nottrommel?“ fragte ich. „Na! ProbiernS‘ es hålt mit Rauchzeichn“, revanchierte sich Häuptling 2. Nachdem alles doch funktionierte, wenigstens für den Augenblick, und übergeben war, löste sich das Wespennest auf.
Wir erhielten zwei aufeinanderfolgende Rufnummern, aber erstaunlich wenige Anrufe. Die Anlage mit zwei Anschlüssen verhielt sich auffällig still. Als ich selbst bei einem Auftraggeber anrief, erfuhr ich den Grund. Die Leute in den Schadenabteilungen konnten unsere Nummern nicht wählen, weil sie von ihrer eigenen Telefonzentrale gesperrt waren. Unsere Nummern gehörten zu einer Serie, die gerne von Anbietern von Sex und Pornodienstleistungen verwendet wurde und meistens mit einem halsabschneiderischen Tarif für den Anrufer verbunden war. Ich gab allen Kunden für vorläufig unsere analoge Privatnummer, die gleichzeitig eingerichtet worden war. Ich rief Häuptling 2 an und tobte.
„Jå, und passt dos denn net zu Seneren Sektor?“ fragte Häuptling 2 verdattert.
„Wie die Faust aufs Aug!“
Die Post nahm uns aus dem Versuchsprogramm. ISDN war inzwischen so weit erforscht, dass man uns reguläre Nummern zuteilen konnte.
Das siebente Postauto, das damals in den gelben Stau geraten war, wurde von Frau Pock gesteuert. Täglich mühte sie sich über den Schotterweg herauf zur unteren Terrasse, kam ins Büro und lieferte die Post ab. In Anbetracht ihrer Gehbehinderung übte sie nicht die genau passende Berufstätigkeit aus. Sie war an die fünfzig und hatte noch einige Jährchen zu laufen mit dem schweren Schuhwerk, das sie auch im Sommer tragen musste. Die Behinderung war Dauerfolge eines Unfalls oder einer Krankheit. Besserung konnte sie nicht erwarten. Trotzdem war sie nie schlecht gelaunt, im Gegenteil, immer zu einem Scherz bereit, sogar, wenn sie es eilig hatte, das wussten wir schon. Postlerin muss sie überaus gerne gewesen sein. Frau Pock brachte nicht nur unsere Post, sie nahm auch mit, was wir zu verschicken hatten. Das war kein besonderes Entgegenkommen, sondern im ländlichen Österreich so vorgesehen. Landbriefträger nannte die Post diese Einrichtung. Wie angenehm das für uns war nach den Erfahrungen mit der italienischen Post, liegt auf der Hand. Beim Landbriefträger konnte man fast alles erledigen, was auch am Postamt am Schalter angeboten wurde, sogar den Geldverkehr. Wenn auch hin und wieder Überfälle vorkamen, die Angst ums Geld hielt sich in Grenzen. Daher hatte die Post auch keine Angst um ihre Briefmarken. Frau Pock brachte sie in jeder gewünschten Menge mit.
***
So wie ich früher von Rivolto aus regelmäßig nach Österreich gefahren bin, mache ich jetzt einen wöchentlichen Ausflug nach Italien, im Bedarfsfall auch mehrmals. Vor dem Haus am Richterweg stehen jetzt drei Autos, alle altersschwach. Mein roter Uno, der graue Croma und, noch etwas lebendiger, Mamas blauer Uno. Mein roter Uno hat immer wieder Überraschungen für mich parat. Unlängst hat er nachts auf einer dunklen Landstraße bei achtzig plötzlich das Licht komplett ausgeschaltet. Ein Wunder, dass ich nicht im Graben gelandet bin. An nasskalten oder verschneiten Tagen sieht Soile mir vom Fenster aus amüsiert zu, wie ich von einem Auto zum anderen hüpfe. Es ist immer spannend, welcher von denen anspringt. Haben die Versuche bei einem von ihnen Erfolg, überquere ich die Grenze auf der Staatsstraße. Bis hierher reicht der Empfang meines D-Netz-Handys. Ich muss es noch innerhalb des Empfangsbereichs abstellen. Dann bin ich von Österreich isoliert. Meine erste Station ist die Bank in Tarvisio. Die Notlösung mit dem Ausländerkonto hat nicht lange gedauert. Bald konnten wir ein ganz gewöhnliches Geschäftskonto anlegen bei der Banca Antoniana in Udine, gleich gegenüber dem eindrucksvollen Dom. Jetzt haben wir ein zweites eröffnet bei der Banca di Vicenza in Tarvisio. Die können wir jederzeit innerhalb weniger Minuten erreichen. Um die Bank zu betreten, muss man außen läuten. Einer der Beamten schaut dann durchs Fenster und wenn er den Besucher kennt, drückt er einen Knopf, der eine kleine Ampel auf Grün schaltet und für einen kurzen Moment Einlass in die Dusche gewährt. Nein, die Dusche dient nicht der Geldwäsche. Es handelt sich um eine enge zylinderförmige Schleuse. Man kann sie nur einzeln betreten. Hat man das getan, schließt sich die äußere Duschwand. Darauf sollte sich die innere öffnen. Tut sie aber nicht immer. Ich frage mich, ob es sich um einen Defekt handelt oder Absicht, sodass jemand mit bösem Vorsatz damit rechnen muss, in der Dusche gefangen zu bleiben, wenn er Pech hat. Bleibt die innere Duschwand zu, muss ein Beamter neuerlich den Knopf betätigen. Gottseidank kennen mich die Schalterbeamten inzwischen. Allerdings ist ihre Sicht vor die Dusche nicht die beste, weil sie selbst hinter dicken, schusssicheren Glasscheiben versteckt sind. Hat man einmal diese Prozedur durchlaufen, muss man in dieser provinziellen Zweigstelle nicht mehr mit langen Wartezeiten rechnen, anders als in Udine, wo man wie auf der Post Nummern ziehen und den Aufruf auf der Zifferntafel abwarten muss. Dafür gibt es in Udine keine Schleuse. Vertraut man darauf, dass Räuber zu ungeduldig sind für das Nummernziehen? Oder darauf, dass den Räubern immer zu viele Kunden anwesend sind? Manchmal steht ein bewaffneter Security vor der Bank.
Wie anders ist der Bankbesuch bei Raiffeisen in Arnoldstein! Eine Schiebetür öffnet sich bei der Annäherung selbsttätig. Die Schalter in der Halle sehen aus wie Stehtische im Café. Keine schusssicheren Glasbarrieren schützen die Bankbeamtin. Sie sieht weder aus noch drein wie eine Beamtin, sondern wie eine muntere Serviererin im Café. Man bekommt Lust, einen Verlängerten zu bestellen. Die Atmosphäre ähnelt der eines Wohnzimmers. In einer Ecke gibt es Spielsachen für Kinder. Das Geld liegt in einer Lade wie im Supermarkt. Ein Alarmknopf wird wohl irgendwo versteckt sein. Kameras spähen neugierig von der Decke. Natürlich haben wir auch hier ein Geschäftskonto eröffnet. So kann die Bank besser kontrollieren, wie es uns geht und ob nicht vielleicht für den Kredit Gefahr im Verzug ist.
Die italienischen Gesellschaften zahlen vorwiegend mit Schecks. Anfänglich weigern sie sich, die Schecks auf Claims auszufertigen, obwohl wir Vollmacht zum Inkasso vorweisen. Damit versuchen die Gesellschaften, uns eins auswischen. Dem Kunden einen auf ihn ausgestellten Scheck weiterzuleiten ist in mehreren Hinsichten unpraktisch. Der Kunde muss den Scheck seiner Bank außerhalb Italiens zum Inkasso übergeben. Die Bank des Kunden schickt den Scheck, meistens gesammelt mit vielen anderen, an die italienische Bank, die den Betrag danach der Bank des Kunden anweist. Erst dann schreibt die Bank dem Kunden den Betrag gut. Man kann sich vorstellen, wie lange das dauert. Es ist auch vorgekommen, dass so ein Paket mit Schecks zwischen einer Bank und der anderen verschwunden ist. Auch hält die Bank des Kunden für diese Tätigkeit Spesen ein, die ganz beträchtlich ausfallen können. Die Spesen für das Überbringen der Entschädigung müsste aber die zahlende Gesellschaft tragen. Die Spesen dem Empfänger aufzubürden ist nichts anderes als die Umwandlung der Bringschuld in eine Holschuld. Im Entschädigungsbetrag sind oft auch Posten enthalten, die nicht dem Kunden zustehen. Etwa Sachverständigenkosten, Übersetzungsspesen, Vertretungskosten oder dergleichen. Diese müsste der Kunde nach Gutschrift des Schecks auf seinem Konto wiederum uns oder wem immer sie zustehen überweisen. Zu guter Letzt haben wir keine Kontrolle über die Gutschrift der Entschädigung auf dem Konto des Kunden. Umständliche, manchmal mehrfache Rückfragen beim Kunden sind dazu nötig. Steht die Gutschrift allzu lange aus, müssen wir der Gesellschaft eine Beschwerde an die Aufsichtsbehörde androhen. Ein Rattenschwanz an Komplikationen wird die Folge sein. Nach und nach gewöhnen wir die Gesellschaften daran, die Schecks auf Claims auszufertigen, indem wir sagen, okay, dann zahlt eben direkt an unseren Kunden. Wie ihr das macht, ist eure Sache. Wir werden dabei nicht helfen. Da stehen sie an. Sie sind nämlich gesetzlich verpflichtet, die angebotene Entschädigung innerhalb zwei Wochen auszuzahlen, ansonsten drohen sehr empfindliche Geldstrafen von der Aufsichtsbehörde. Insofern liegt die Ausstellung eines Schecks an uns also auch im Interesse der Gesellschaft. Wir verwenden unsere italienischen Konten zur Einzahlung der auf uns ausgefertigten Schecks. Die Beträge werden innerhalb weniger Tage gutgeschrieben und wir können sie, bereinigt um Teile, die anderen Beteiligten zustehen, rasch an den Kunden weiterleiten.
Von der Bank in Tarvisio geht es über die Autobahn meistens nach Amaro zum fußballspielenden Autobahnpolizeihund, dann weiter nach Udine. Im Café im Tribunale fülle ich meinen Vorrat an Stempelmarken auf, werde sie gleich wieder los für Protokollablichtungen in den Büros des Tribunale oder ein paar Straßen weiter bei der Procura (Staatsanwaltschaft). Danach zu Marian. Wir füllen unsere beider Mittagspausen, indem wir anhand einer Liste, die ich vorsorglich in Hohenthurn aktualisiert habe, gemeinsam den Letztstand der einzelnen Causen durchgehen. Ich notiere Veränderungen und welche Maßnahmen unsererseits zu treffen sind. Anschließend nehmen wir meistens einen Snack in einem nahen Caffé, bevor ich einige Schadenabteilungen aufsuche, um zu verhandeln. Dann tausche ich weitere Stempelmarken gegen Protokolle von Exekutivbehörden irgendwo im Friuli, gibt es eine Besprechung mit einem Sachverständigen, besuche ich Agenturen, die nach mir verlangt haben oder besichtige Unfallstellen, mache einen kurzen Abstecher nach Rivolto, um nachzuschauen, ob alles in Ordnung ist und irgendetwas mitzunehmen, das in Hohenthurn gebraucht wird. Dann ist es spät genug um heimzufahren. Unterwegs kehre ich zu einer Pizzeria zu und nehme zwei Pizzen fürs späte Abendessen mit. Dabei lerne ich, wie man Pizzaschachteln richtig trägt. Ich halte sie nämlich lässig senkrecht zwischen den Fingern. Die Gäste lachen schadenfroh, als sich die fette Soße über meine Hose ergießt.
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De Wölt is guat, de Wölt is scheen,
månchmol wenig, månchmol fül,
bin zuversichtlich, wird schon gehn,
net olles kriagt ma, wos ma wüll,
doch guat is d’Wölt und meistens scheen.
Wenn i in einer Operettn vorkäm, das wär mein Auftrittsliedl. Man hat’s net immer leicht, aber immer nur so schwer, wie man’s nimmt. Bisher is nix vorkommen, was mi umgrissn hätt. Bin i a Weil ohne Job gwesn, na und? Hab i mi mehr um meine kleinen Buama kümmern können und um den Großen, meinen Loisl, und meine Schwi. Der Loisl hat einen guten Job als technischer Zeichner. Also, arbeitn gehn müsst i net. Der Loisl hat sogar was auf die Seite legen können beim AvW.
Aber a bissl was tun außer Haus und a bissl was dazuverdienen kann auch net schaden. Jetzt tu i das wieder. Vorläufig. Halbtags. Vormittag. Bei so an eigenartigen Ehepaar. Zwa von auswärts. Bade fünfzig vorbei. Sie is a Finnin und er a Wiener. Sind bade nett und höflich. Sie is recht still. Herzogen sans von Italien. Habn an Grund kauft von mein Bruderherz und a Haus draufgstellt. Unten is das Büro drin. Die Firma heißt… na… ma, das fällt mir jetzt net ein. Die machen irgendwas mit Versicherung. Das Büro is noch a bissl nackert, aber luftig und hell. A großer Raum. Am vorderen End is mei Platz und hinten drinnen san die zwa. Die Soile macht die Buchhaltung und schreibt Korrespondenz. Auf Englisch, Finnisch, Schwedisch und Italienisch. Spanisch und Portugiesisch übersetzen hab i sie auch schon gsehn. Und sie telefoniert mit Kunden und mit Versicherungen in halb Europa. Wir bade habn jede an PC mit so an riesigen, schweren, einäugigen Bildschirmmonster. I sag Soile, weil sie warn bade von Anfang an mit mir per du. Gwöhnungsbedürftig, aber schafft Näh nach aner Weil. Respekt is trotzdem da, aber net durch Distanz, sondern durch Wertschätzung. Der Rainer is viel weg. Wenn er da is, telefoniert er a viel und diktiert in die Maschin Brief für mi zum Schreibn. In Italienisch und Deutsch. Er hat kan PC. Die Brief kriegt die Soile zum Korrigiern. Manchmal a der Rainer. Etliche muß i noch amal schreiben. Die findn immer was, von dem was sie behauptn, es is falsch. Sakra, das is ärgerlich. Manchmal is es nur die äußere Form, die ihnen net gfallt. Alles pickt da in der oberen Hälftn und unten is alles leer, hat er gsagt. Na ja, i hab glaubt, das soll a Brief werdn und net a Gemälde. Net olles kriagt ma, wos ma wüll, doch guat is d’Wölt und meistens scheen. Ma, telefoniern möcht i a so gern, aber das seh i schon ein, mit mein Sprachfehler geht das net. Wenn i aufgregt bin, bring i ka Wort heraus ohne Stottern. I hab schon Kurse gmacht und Therapien und es hat si a schon bessert. Aber die Aufregung… Mit der Zeit werd i mi weniger aufregn und dann vielleicht… I sperr um achte auf. Bis neune bin i solo. Der Rainer tät schon wieder ausbessern: sola. I gieß die Blumen und mach Stricherln auf die Karteikartn. Oder schreib Diktat. Um neune kommens ins Büro. Dafür sans am Abend lang da. Wenns das Wetter zulasst, machens nachher noch an Rundgang durchs Dorf. Da is es immer schon finster. Die Leut habn mir das erzählt. Die nächtlichen Spaziergänger kennt schon a jeder. Fallt ja auf, sowas. Aber umgekehrt net. Sie kennen niemand. Na ja, erzähl i halt immer wieder a bissl was über die Leut. Wenn der Rainer weg is, kommt die Soile schon früher. Um zehne mach i an Kaffee. Meistens gibts ane Keks dazu, aber an, zwamal die Wochn bring i ane Mehlspeis mit. I seh, wie‘s dem Rainer schmeckt. Wahrscheinlich kriegt er net so oft ane Mehlspeis oben. Wir stehn dann vor der Bürotür auf der Terrassn bei Kaffee und Kuchen. Der Ugolino kommt vorbei, schaut nach, ob für ihn was abfällt. Dann wasch i die Häferln und weiter gehts. Am Freitagnachmittag, wenn i geh, kommt mei Mutter rauf. Die putzt jetzt bei die Richter.
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Ob ich das erste oder das zweite Richter in der Richter und Richter OEG bin, kann ich mir aussuchen. Rainer überlässt mir großzügig die Wahl. Wir müssen das aber nicht festlegen. Unser Streit darüber ist nur scherzhaft. Als Einzelfirma unter einer gewissen Umsatzgrenze müssen wir nicht bilanzieren. Einnahmen-Ausgaben-Rechnung genügt. Trotzdem vertrauen wir auch hier die Buchhaltung einem externen Fachmann in Villach an. Er kennt sich aus mit den vielen Spezialitäten und Terminen. Für uns selbst wären das nur unnötige Fallstricke. Und er kennt die Beamten im Finanzamt. Auch haben wir schon genug zu tun mit unserer ureigenen Arbeit. Ich mache die Aufbereitung. Die ist kompliziert genug. Drei Bankkonten, die Abrechnungen mit den Auftraggebern, die Trennung der Fremdspesen und Durchlaufposten vom einkommensteuerpflichtigen Umsatz, Geschäftsfälle mit Mehrwertsteuer und andere ohne, die unterschiedlichen Währungen… Ach, käme der Euro doch schon morgen!
Unser Buchhalter ist ein gemütlicher Kärntner Onkel. Sein Hobby, die Modelleisenbahn, hätte immer schon auch Rainers werden sollen. Das verbindet. Fachlich scheint Herr Aichhorn gut drauf zu sein. Trotzdem hat er eine Weile zu tüfteln, um unsere komplizierte Materie mit den Normen der Finanz unter einen Hut zu bringen. Jeden Monat werde ich die aufbereiteten Belege in sein Büro bringen. Aichhorns Mitarbeiterin, Frau Vogel, wird die Unterlagen in jene Form bringen, die das Finanzamt verlangt. Einmal jährlich werden wir mit Aichhorn das Ergebnis besprechen. Er wird von Mal zu Mal zufriedener sein. Wir auch, denn seine Rechnungen fallen nie so exorbitant aus wie die Frechheiten Di Fazios. Anschließend werden wir fünf Plastiksäcke, schwer bepackt mit Ordnern und Heftern zum Auto schleppen, Unterlagen, die für eine eventuelle Steuerprüfung sieben Jahre lang aufbewahrt werden müssen.
Rainer beschäftigt sich jetzt viel mit dem Computer. Er macht das nachmittags, wenn Hannis PC frei ist. Alles wird automatisiert. Eine Anzahl Schimmelbriefe entstehen. Texte, die immer wiederkehren oder mit nur geringen Änderungen. Am liebsten ist uns der letzte in der Sammlung: ‚Es ist uns gelungen, die Forderung durchzusetzen.‘ Es ist erfreulich, wie oft er verwendet wird. Wenn das Wort ‚teilweise‘ hineingeflickt werden muss, wurmt uns das schon. Wenn das notwendig ist, war es aber meistens von Anfang an nicht anders zu erwarten. Das Sortiment soll vor allem Hannis Arbeit erleichtern, denn besonders sattelfest ist ihre Schreiberei nicht. Weder auf Deutsch, noch auf Italienisch. Manchmal fragen wir uns, wie sie das schafft, in Italienisch nicht noch viel mehr Fehler zu machen, denn sie scheint keine Ahnung zu haben, um was es geht. Böse können wir ihr dafür nicht sein, denn sie ist so ungemein willig und gewissenhaft. Vielleicht bessert sich ja das Schreiben mit fortschreitender Praxis.
Auch für meine Buchhaltung fertigt Rainer Masken für die Abrechnungen an, die notwendige Kalkulationen wie Währungsumrechnungen, Grundrechnungen, Prozentrechnungen automatisch ausführen. Er wendet viel Zeit auf dafür, denn auch er muss immer wieder probieren und herumsuchen, um die Probleme zu lösen. Wenn aber einmal etwas funktioniert, erleichtert mir das das Leben.
Wenn technische IT-Probleme auftreten, rufen wir Wolfgang an. Wolfgang Stauder kommt, schaut und behebt. Ein noch junger Mann mit Charisma. Sein freundliches Auftreten, sein Humor und seine bald offenbar werdende Haltung machen es unmöglich, sich mit ihm nicht anzufreunden. Nach kurzem Blick auf das Problem kommt seine Feststellung „Dos habn ma glei.“ In dieser unserer IT-Anfangsphase mit zwei einfachen unverbundenen Geräten bewahrheitet sich das auch. Mit der Zeit werden unsere Systeme aber immer umfangreicher und komplizierter. Bald bekommt auch Rainer einen PC. Über unseren Personalzuwachs reden wir später. Aber auch die Neue bekommt einen PC. Die Rechner werden vernetzt, ein Server muss her. Internet. Die Post kann aber in unserer Gegend noch keine geeigneten Leitungen anbieten. Eine Firma bietet Anbindung über Funk zum Sender auf dem Dreiländereck an. Das alles muss eingerichtet werden und gewartet. Wolfgang macht das. Dos habn ma glei. Dann werkt er eine Weile. Glei ist schon lange vorüber, wenn sich herausstellt, dass das Problem doch schwieriger ist als erwartet. Inzwischen politisiert er mit Rainer. Sie verstehen sich gut. Sie weinen und lachen über Haider und Konsorten. Wolfgang vermittelt uns jemanden, der uns eine Homepage bastelt. Rainer hat schon wieder eine Idee. Herra Jumala! Diesmal will er in die Homepage ein Abfragesystem einbauen, womit unsere Auftraggeber und die Kunden jederzeit den aktuellen Stand ihres Schadenfalls einsehen können. Heute ist sowas gang und gäbe, aber zu diesem Zeitpunkt eine wirkliche Novität, vor allem in unserer Branche. Wolfgang tüftelt auch das aus. Bei jeder Veränderung des Sachstands geben wir eine kurze Mitteilung in das System ein. Die ganze Historie ist für die Auftraggeber und Kunden bei Abruf mit Passwort sichtbar. Unsere Auftraggeber sind begeistert. Für uns fällt das Verfassen und Versenden der vielen Zwischenberichte weg.
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